Professor für Soziologie an der Universität Hannover

Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Im Stadion in Hamburg, witzigerweise gemeinsam mit meinem Vater. Dieser gemeinsame Länderspiel-Besuch war von langer Hand vorbereitet, ich hatte die Karten besorgt - es waren damals schwierige Zeiten zwischen Vätern und Söhnen.

Ich war links, aber ein scharfer DDR-Kritiker, deswegen hielt ich also auch nicht zur Mannschaft der DDR. Es waren aber sogar ungefähr 100 Schlachtenbummler aus der DDR da, mit Hammer-und-Zirkel-Fahne, das war so lächerlich, ich glaube, die hatten sogar blaue Hemden an ...

Dieser Tag sollte der schlimmste in der Karriere des Günter Netzer werden. Er war fußballerisch für viele Linke ja eine Identifikationsfigur. Ich meine nicht den aufgesetzten Netzer-Mythos, es lag eher an seiner Art zu spielen, wie er Ecken hereinschlug oder paßte.

Später ist dann viel in dieses Spiel hineingeheimnist worden, man glaubte, daß dies Helmut Schöns Rache an Netzer gewesen sei, er habe allen zeigen wollen, daß Netzer nicht mehr in der Lage sei, bei einer WM zu spielen. Das glaube ich nicht, Netzer war schlicht nicht in Form und wurde obendrein zu einem Zeitpunkt eingewechselt, als sowieso schon alles verkorkst war - es war ein Musterbeispiel schlechter Einwechslung.

Das Sparwasser-Tor, das schon gefallen war, als er ins Spiel kam, hat die Stimmung in der Bundesrepublik dann wieder auf den Boden der Realität zurückgebracht, Weltmeisterschaften im eigenen Land sind ja meist etwas problematisch. Im Stadion selbst - nun, ich habe niemals davor und niemals mehr danach eine solche Stimmung erlebt, die Leute fanden das Ergebnis gerecht, die bundesrepublikanische Mannschaft ist ja noch heute der Inbegriff des Glückspilzes, da aber haben sie die Quittung für ihr schlechtes Spiel bekommen. Mit "Systemvergleich" hatte das nichts zu tun, das Wort konnte man in diesem Zusammenhang sowieso nur ironisch benutzen, auch die chauvinistischen Kriterien funktionierten nicht, letztlich war nur etwas passiert, was häufiger geschieht, ein übermotivierter einfallsloser Favorit wurde von einem gut eingestellten Außenseiter-Team kalt erwischt, und dann steht es eben schnell 1:0.

Diese bundesrepublikanische Mannschaft war ja auch schon überaltert und nicht mehr so gut wie die von 1972, die Europameister mit einem spielerischen Stil geworden war.

Die Lehrbuchweisheiten waren plötzlich konfrontiert mit einer emotionalen Realität, für die es keinen Präzedenzfall gibt, für mich war es ein wirklich gebrochener Moment - ein Augenblick gemischter Gefühle.

Mein Vater hat darauf mit dem Abwehrmechanismus des alten Fußballfans reagiert: Er hatte alles kommen sehen ...