Feindbild Islam

Wie Medien und Politik am selben Bild stricken.

Ist der fundamentalistische Islam auf dem Vormarsch? Schaudernd blicken westliche BeobachterInnen nach Afghanistan, Iran, Algerien und in die Türkei, wo FundamentalistInnen den islamischen Glauben zur politischen Ideologie umdeuten. Berichte über Gewalt und Repression gegenüber Andersdenkenden und menschenverachtende chauvinistische Parolen bestimmen das Bild vom Islam im Ausland und werden unzulässigerweise auf die bundesdeutsche Wirklichkeit übertragen. Der Re-Islamisierungstrend wird als weltweite, gefährliche Form des Extremismus gesichtet. So geraten die 2,7 Millionen in der Bundesrepublik lebenden MuslimInnen ins Kreuzfeuer des öffentlichen Interesses. Dabei wird oft übersehen, daß der Islamismus bundesrepublikanischer MuslimInnen in der bundesdeutschen Gesellschaft entstanden ist und nur in diesem Zusammenhang verstanden werden kann. Darum soll es im Folgenden um die bundesrepublikanische Entwicklung gehen.

Vor allem die Sozialwissenschaftlerlnnen haben die Bedrohlichkeit des Fundamentalismus in Deutschland zu beweisen versucht. Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer warnt in seiner neuesten Studie, daß 68 Prozent der befragten Jugendlichen türkischer Herkunft dem Islam große Bedeutung zumessen. Desintegration verstärke den Glauben an die Überlegenheit des Islam und lege die Akzeptanz religiös begründeter Gewalt nahe. Laut Heitmeyer orientieren sich bereits 33 Prozent der Jugendlichen an der größten islamisch-fundamentalistischen Organisation in der Bundesrepublik, "Milli Görüs". Schon hier ist fraglich, ob Heitmeyer und seine InterpretInnen die Gefahr des fundamentalistischen Islam nicht eher herbeireden als nachweisen. (...)

Im Falle Milli Görüs allerdings ist die deutsche Einigkeit komplett. Der Verfassungsschutz stuft den Verein als verfassungsfeindlich ein, ohne die Aktivitäten der Gruppe in der Bundesrepublik näher zu bezeichnen. Auch für die Presse ist die Sache klar, hier handelt es sich um gefährliche "Moslem-Extremisten". Weite Teile der Parteien sehen keinen Grund zur Auseinandersetzung mit fundamentalistischen Positionen, wie das jüngste Beispiel aus Berlin, der Fall des Kreuzberger CDU-Politikers Erdan Taskiran zeigt. Er wurde von einer Koalition aus Kreuzberger SPD und Bündnisgrünen zum Rücktritt gezwungen, als seine Mitgliedschaft bei Milli Görüs bekannt wurde.

Der politische Ausschluß islamistischer PolitikerInnen ignoriert die Beweggründe der 29 400 offiziellen Mitglieder und der SympathisantInnen von Milli Görüs, eines nicht unerheblichen Teils dieser Gesellschaft. Die Aktiven sind keinem religiösen Wahn verfallen, sondern vertreten bisweilen handfeste Interessen türkischer MigrantInnen und artikulieren die Bedenken vieler gläubiger MuslimInnen gegenüber der westlichen modernen Gesellschaft. Sie kritisieren den Zerfall von Familienstrukturen, den Individualismus, die Veränderung traditioneller Werte. Darin stehen die konservativen IslamistInnen den deutschen Konservativen durchaus politisch nah, so daß das Engagement türkischstämmiger MuslimInnen in der CDU eher Ausdruck der Integration ist als Zeichen einer islamischen Verschwörung.

Aber das Interesse an differenzierter Betrachtung des Islam ist begrenzt. So stricken Medien wie Politik am selben Bild: Islamisten sind feindliche und irrationale FanatikerInnen. Das Urteil "islamisch-extremistisch" genügt offenbar, um einen vielsagenden Assoziationszusammenhang hervorzurufen. Einzelne Phänomene, wie die steigenden Mitgliedszahlen islamischer Vereine, werden von der deutschen Gesellschaft in spezifischer Weise gedeutet: Der muslimische Fundamentalismus gilt als bedrohlicher Gegensatz zur modernen westlichen Demokratie, als Beweis dienen willkürlich hergestellte Zusammenhänge beispielsweise zwischen muslimischen Jugendlichen in der Bundesrepublik und dem politischen Islam im Iran. (...) Die Hinwendung zum Islam hat bisher, im Gegensatz zum Rechtsextremismus Deutscher, niemanden gefährdet.

Auch die Vorstellung, MuslimInnen in der Bundesrepublik seien in einem vormodernen Weltbild gefangen, sagt wenig aus über die Realität von MuslimInnen, dafür um so mehr über die Wirksamkeit des Feindbilds Islam. Denn seit dem letzten Jahrhundert ist die islamische Welt fester Bestandteil der westlich dominierten Welt, eingebunden in die modernen Entwicklungen von Wissenschaft, Ökonomie und Alltagsleben. Gerade die muslimischen MigrantInnen in der Bundesrepublik haben ihre Modernität bewiesen. Trotzdem war das Feindbild Islam nie aktueller als heute. Die Erklärung dafür findet sich weniger bei den MuslimInnen, als bei der Gesellschaft, die das Feindbild produziert, denn dort erfüllt es seinen Zweck.

Feindbilder sind keine individuellen Vorurteile, sondern gelten innerhalb einer Gesellschaft als wahr. Sie beschreiben eine andere Gruppe als Gegensatz und Bedrohung der eigenen Gruppe.

(...) Gerade in modernen Gesellschaften sind Feindbilder wichtig. Denn die Menschen sind nicht mehr durch direkte Sozialbeziehungen miteinander verbunden, sondern müssen ihre Integration in die Gesamtgesellschaft individuell leisten. Diese Integrationsleistung ist kein stabiler Zustand und oft gefährdet. Feindbilder können solche Probleme kompensieren, sie ersetzen das positive Wissen von der eigenen Gesellschaft, die positiven Gefühle für das eigene Kollektiv durch Aggressionen gegenüber einem Gegner. Allen Individuen ist dann zumindest gemeinsam, daß sie von einem Feind bedroht werden. (...)

Feindbilder können nicht künstlich erzeugt werden, sondern müssen auf tradierte Konfrontationen zurückgreifen. Der aktuelle Anti-Islamismus des Westens hat in dieser Beziehung gute Voraussetzungen: Seit der frühen Neuzeit gilt der Orient den EuropäerInnen als Bereich der Gegen-Vernunft, des gewaltbereiten Wahnsinns und der Bedrohung. Die Bedrohlichkeit ist eine weitere Konstante von Feindbildern. Dem Feind werden Überlegenheit und aggressive Absichten unterstellt. Darum wird nie nur eine innergesellschaftliche Gruppe zum Feind. Die deutsch-türkischen IslamistInnen können nur deshalb wirklich bedrohlich wirken, weil sie in Verbindung mit islamistischen Bewegungen in der Türkei und anderswo auf der Welt gesehen werden.

Gleichzeitig brauchen die von Feindbildern erzeugten Aggressionen auch ein Objekt. Deshalb werden wehrlose Teile der Bevölkerung als SympathisantInnen eines äußeren Feindes definiert. So ist das Feindbild Islam zwar zunächst durch äußere Kräfte präsent, um die Gefahr aber auch innergesellschaftlich greifbar zu machen, werden die muslimischen MigrantInnen in der Bundesrepublik als Vorhut des Fundamentalismus diskriminiert.

Innergesellschaftliche Probleme werden dem Feind zugeschrieben: Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot oder Kriminalität - schuld sind die "Ausländer". Jede Kritik kann als versteckte Komplizenschaft mit dem Feind abgewehrt werden.

Dabei täte eine kritische Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung im Westen not. Denn nach dem Ende der vierzigjährigen Ost-West-Konfrontation steht auch der liberaldemokratische Wohlfahrtsstaat zur Disposition. Mit dem Wegfall der Systemkonkurrenz fehlt die Motivation, ihn in dieser Form weiter zu finanzieren. Doch statt grundsätzlich die Folgen von Deregulierung und unsozialer Marktwirtschaft zu diskutieren, finden die Gefahren des islamischen Fundamentalismus weit mehr öffentliche Aufmerksamkeit. (...)

Feindbilder produzieren reale Konflikte, denn schließlich gleichen sich auf beiden Seiten die Verhaltensweisen den Vorstellungen an, die die Gegenseite jeweils in ihrem Feindbild entwirft. Insbesondere die schwächere Partei kann sich dem Sog der Definitionsmacht der Mehrheit nicht entziehen.

So ist die zunehmende Islamisierung der Menschen aus der Türkei in der Bundesrepublik möglicherweise das Produkt des deutschen Anti-Islamismus. Denn die herrschende öffentliche Meinung in der Bundesrepublik setzt türkische MigrantInnen gleich mit Islam und islamische Gemeinden in Deutschland mit dem politischen Fundamentalismus in islamistischen Staaten. Die Betroffenen werden so ausgegrenzt und in ihrem Selbstwertgefühl verletzt. Paradoxerweise bietet das Feindbild hier einen Ausweg: Denn je mehr sich die TürkInnen selbst nach dem Entwurf begreifen, den das Feindbild ihnen zur Verfügung stellt, desto selbstbewußter können sie gegenüber Deutschen auftreten. Schließlich wissen sie ja nun, daß die Deutschen den Islam als bedrohlich ansehen und sich ihm unterlegen fühlen. Ein attraktives Verhaltensmuster gerade für Jugendliche, die besonders unter Ausgrenzung leiden und noch nicht auf gesellschaftliche Konventionen festgelegt sind.

Auch Fundamentalismusforscher Heitmeyer wäre zu anderen Ergebnissen gekommen, hätte er diese Zusammenhänge berücksichtigt. Er hat als deutscher Meinungsforscher türkischen Jugendlichen Fragen gestellt, die deutlich auf das zielen, was den Deutschen am Islam am befremdlichsten erscheint. Es ist naheliegend, daß die Jugendlichen in der provozierenden Bestätigung des anti-islamistischen Feindbilds eine Möglichkeit sehen, die Verletzungen ihres Selbstwertgefühls zu kompensieren.

Riza Baran ist Mitglied der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Sein, von uns leicht gekürzter, Text erschien zuerst in Die Brücke - Forum für antirassistische Politik und Kultur, Juli/August 1997