Sturzflug der Engel

Der Regisseur Wong Kar-Wai und sein neuer Film "Happy Together"

Moderne Großstadt und Film sind bereits in der Vergangenheit eine enge Symbiose eingegangen: Beide als Folge der sprunghaften Entwicklung der Kommunikations- und Verkehrstechniken gegen Ende des letzten Jahrhunderts entstanden, fließen sie in der Bilder- und Lichtwelt von Wong Kar-Wai zu einer heterogenen Zeichenfülle zusammen. Und wenn der Soziologe Georg Simmel 1905 schreibt, daß der "Ort der Moderne die Großstadt" sei, so antwortet Wong Kar-Wai spätestens 1995 mit "Chungking Express", der Ort der Großstadt ist der Film. Sein Film.

Wong Kar-Wai dreht in Hongkong. Die asiatische Metropole am Südchinesischen Meer ist weltweit eine der größten Produktionsstätten der Filmindustrie. Daran hat sich auch nichts durch die Übergabe der ehemals britischen Kronkolonie an China geändert. Allerdings sind leichte klimatische Veränderungen in der politischen Atmosphäre unverkennbar, das Plakat für Wong Kar-Wais Film "Happy Together", auf dem ein schwules Paar durch das Bild rollt, wurde zensiert. Ikonographie und Diktion des liberalen Stadtstaates sind dem politischen Selbstverständnis der neuen Machthaber gewichen.

Der 1958 in Shanghai geborene Wong Kar-Wai gehört innerhalb der Filmindustrie seines Landes zu den Außenseitern. Während die Studiobosse Hongkongs mit Kung Fu-Filmen und Softpornos Kasse machen, geben sie sich besonders auf den Filmfestivals in Europa und Nordamerika gern experimentell und künstlerisch. Mit Filmkunst versuchen sie, Reputation und Anerkennung für ihren Produktionsstandort zu gewinnen. Obwohl in Hongkong nur wenige Filme dieser Art produziert werden, hat sich in unseren Breitengraden die Meinung verfestigt, daß sich in der asiatischen Metropole ein Kino herausgebildet hat, das, jung und experimentierfreudig, an den Festen filmischer Erzählkonventionen rüttelt.

Hautnah dran am Leben und den Finger immer fest am Puls der neunziger Jahre scheint die schnelle Stadt ein schnelles Kino hervorgebracht zu haben. Doch das stimmt nur insoweit, als "Citizen Kane" oder "The Magnificient Ambersons" stellvertretend für den Hollywood-Film der vierziger Jahre gehalten werden können. Ein Teil oder gar die Speerspitze ist nicht das Ganze. Und Wong Kar-Wai ist vor allem eines: ein Aushängeschild.

Der stets sonnenbebrillte Regisseur ist kein Bilderstürmer, sondern reiht sich brav und ungezogen zugleich ein in eine lange Traditionskette. Kaum ein Interview, in dem nicht die Namen Godard oder Truffaut fallen, überhaupt haben es ihm die Nouvelle Vague und deren Veränderungen der Erzählweise im Kino angetan. Doch Kar-Wai haftet nicht an vergangenen Jahrzehnten, sondern überwindet den Stillstand und die Destruktion der Großstadtfilme der achtziger Jahre. Während vor wenigen Jahren nur die Bewegung in der "Simulation" möglich schien, bewegt Kar-Wai alles. Bilder, Figuren, Kamera, den Zuschauer.

Zugleich versteht er es, videoästhetische Kategorien in den Spielfilm zu integrieren, ohne die Handlung zu einem "L'art pour l'art"-Eskapismus zu degradieren. "Gotham City" oder etwa der dunkle Moloch Stadt eines Ridley Scott haben angesichts der Fülle an visuellen und akustischen Reizen eines Wong Kar-Wai-Films kapituliert. "Chungking Express" und "Fallen Angels" sind geballte Zeichenkraft.

Doch bei aller ästhetischer Lebendigkeit geht eine tiefe Melancholie von seinen Filmen aus. Erinnerungs- und Gedächtnisschwierigkeiten, Bindungslosigkeit und zufällige Begegnungen sind Themen, die Kar-Wai variiert und in jedem seiner Filme aufs neue wieder abruft. Über der Beschäftigung mit der Frage, ob eine abstrakte Business-Partnerschaft in eine emotionale Beziehung umschlagen darf, können schon einmal Menschen zerbrechen und "Engel stürzen".

Eher konstatiert denn beklagt wird dabei, daß sich an der Stelle fehlender Traditionen eine gähnende Leere breitgemacht hat. Isoliert und kommunikationslos sitzen die Figuren, denen der Autor-Regisseur oft nur typisierende Bezeichnungen wie "Der Killer" oder "Das Mädchen" gibt, in verspiegelten Bars herum.

Jetzt kommt mit "Happy Together" Kar-Wais neuer Film in die deutschen Kinos. Ein Film über versuchte und scheiternde Begegnungen. "Wir können es ja noch einmal versuchen", lauten - in Anspielung auf den Anfang von Becketts "Godot" - die ersten Worte, in denen sich bereits die folgenden anderthalb Stunden der Filmhandlung abzeichnen. Denn die beiden jungen Männer Lai Yiu-Fai (Tony Leung) und Ho Po-Wing (Leslie Cheung) versuchen es noch einmal, zweimal, dreimal, tausendmal.

Schließlich aber fügen sie sich in die schmerzhafte Erkenntnis, daß ihre Beziehung gescheitert und vorbei ist. Eigentlich keine Überraschung in der Reihe desorientierter Wong Kar-Wai-Filmfiguren. Keine Überraschung, und doch ist "Happy Together" der Versuch, Neuland zu betreten. Geographisch hat es Kar-Wai bis Buenos Aires geschafft, inhaltlich jedoch werden die Stadtgrenzen Hongkongs niemals verlassen. Wie Fremdkörper wirken die beiden in Südamerika, wie Figuren auf einem imaginären Schachbrett einer unantastbaren Stadtkulisse, ohne Kontakt zu den Menschen und der Wirklichkeit. Nur ein einziges Ziel formulieren sie: zu einem von beiden mythisch überhöhten Wasserfall zu gelangen. Er steht gleichzeitig für ihre Wünsche wie das Scheitern ihrer Träume.

Buenos Aires kannte Wong Kar-Wai vor Drehbeginn nur aus den Büchern des argentinischen Schriftstellers Manuel Puig. Argentinien ist darin ein sonnenüberflutetes Land. Als die Hongkonger Filmcrew allerdings im Winter auf dem Flughafen von Buenos Aires landete, erwartete sie statt Wärme und Sonne nur Kälte und Regen - Künstlerpech. Und auch die lokalen Crews genügten nicht den Hongkonger Arbeitsanforderungen. "Sie wollten einfach nicht 18 Stunden am Tag und sechs Tage die Woche arbeiten", erzählte ein kopfschüttelnder Wong Kar-Wai verständnislos auf der Pressekonferenz in Cannes, wo er für "Happy Together" den Preis für die Beste Regie erhielt. Räuspern unter den Journalisten. Nächster Punkt.

Wong Kar-Wai hat einen neuen Stil geprägt. Seine neutral beobachtende Kamera, die sich einer eigenen Erzählerposition enthält, bewegt sich auf einem schmalen Grat, zwischen Distanz und Distanzlosigkeit. Dabei hinterläßt sie mehr Lücken als lineare Versatzstücke in der diskontinuierlichen Erzählweise. Erst so gewinnt die Schattenstadt der Großstadtmenschen und der Neonzirkus der Hochhauskulissen an narrativer Kraft. Doch originelle Ideen nutzen sich ab und verblassen mit der Zeit. Nicht umsonst hat Wong Kar-Wai diesmal in Buenos Aires gedreht. Er wollte und mußte der Wiederholungsfalle entgehen. Er muß sich weiterentwickeln, sonst gerät der einst als innovativ gefeierte Künstler schnell in Vergessenheit. Kar-Wai stellt sich dieser Gefahr: "Erst vor kurzem habe ich einen Film gesehen, der wie ein Remake von 'Fallen Angels' meets 'Chungking Express' ausgesehen hat. Es gibt jetzt koreanische Wong Kar-Wais und japanische Wong Kar-Wais und taiwanesische Wong Kar-Wais. It's time to move on." Warten wir ab, wohin der Weg führt. "Happy Together" jedenfalls ist noch keine Sackgasse.

"Happy Together". Hongkong 1997. R.: Wong Kar-Wei, D: Leslie Cheung, Tony Leung, Chang Chen. Ab 18. September