Tuntenschubsen und Bullengrapschen

Nach dem "CSD der Ratten" gärt es in der Berliner Lesben- und Schwulenszene

11Wenn es bei einem Forum im Berliner Haus der Demokratie am 12. September um den Christopher Street Day geht, und zwar um den vom 28. Juni, dann muß dort schon Außergewöhnliches vorgefallen sein.

In der Tat hatte der Tagesspiegel am 29. Juni 1997 auf Seite eins vermeldet: "Erstmals beim Berliner Christopher-Street-Day kam es gestern abend zu Krawallen und schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nachdem von einigen Wagen des Zuges aus Steine und Schlamm auf Passanten und Autos geworfen wurden, begleiteten schließlich zwei Einsatzhundertschaften der Polizei ein von der PDS gestelltes Fahrzeug des sogenannten Herz- und Hirn-Blocks. Zwei Demonstranten wurden bei einer Rangelei verletzt." So halbseiden die Meldung war - nichtmal die zuständige Lagestelle der Polizei wußte von Steinwürfen und der böse Wagen gehörte auch nicht der PDS -, enthielt sie doch einen wirklich interessanten Aspekt: "Wie es hieß, hatten die Veranstalter des CSD schon in Höhe der Siegessäule den Wagen wegen der Gewalttaten aus der Demonstration 'ausgeschlossen'." Dies genau war Anlaß der Veranstaltung, denn die Berliner Lesben- und Schwulenszene war wohl nie so gespalten wie nach dem von den offiziellen, stramm bürgerlichen CSD-Inhabern Sonntags-Club (SC), Mann-O-Meter (MOM) und Schwulenverband in Deutschland (SVD) veranlaßten Einsatz von 248 "bürgerfreundlichen" "Bullen und Bulletten" gegen die Schmuddel-Homos.

Zunächst mußte Moderator Dieter Telge den rund 80 Anwesenden etwas wenig Überraschendes eröffnen: SC, SVD und MOM, so hatte der CSD-Pressesprecher Jürgen Bieniek kurzfristig wissen lassen, hegten "berechtigte Zweifel an einer sachlichen und konstruktiven Auseinandersetzung mit den in der Einladung genannten Gruppen" und wollten sich an einer "verbalen Schlammschlacht" nicht beteiligen. Nach dieser Absage hatte sich die Deutsche AIDS-Hilfe als neutraler Mitorganisator des Forums ebenfalls zurückgezogen. Gekniffen hatte ferner der Schwulenbeauftragte der Berliner Polizei, Jörg Riechers.

In ihrer bockigen, polizeikompatiblen Absage zeigten sich die CSD-Organisatoren einmal mehr als treue Staatsbürger, die "solche Aktionen nicht gutheißen", welche "den friedlichen Charakter der CSD-Demo offensichtlich demontieren sollen" oder "darauf angelegt sind, Gewalt zu provozieren und eskalierend zu wirken". Daß besagte Aktion nicht nur die braven schwulen Biedermänner, sondern auch die Staatsgewalt provozierte, ist nachvollziehbar, denn sie war höchst politisch. Die Provokation bestand aus einer drei Meter hohen Pappmaché-Ratte und einer Wanne Schlamm, mit dem sich die "schwulen Ratten" einsauten. Die Performance war das Echo auf eine Bemerkung des Berliner CDU-Fraktionschefs Klaus Rüdiger Landowsky. Er hatte im Frühjahr 1997, wie schon 1933 ein Goebbels und 1980 ein Franz Josef Strauß, geäußert: "Es ist nun einmal so, daß dort, wo Müll ist, Ratten sind, und daß dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muß in der Stadt beseitigt werden." Natürlich ging mancher Spritzer daneben und führte im Gegensatz zu den sonst beim CSD gewohnten Sektfontänen zu Totalschäden an parkenden Pkw. Grund genug zur Kriminalisierung.

Eine Kleine Anfrage von Marion Seelig (MdA, PDS) erbrachte indes die aktualisierte Sicht des Innensenats auf die Ereignisse. Dort ist man inzwischen ebenso überzeugt von gezielten Steinwürfen wie die CSD-Organisatoren. Leider wurde aus der Senatsantwort nicht ersichtlich, nach wessen Informationen die zu den Wagen 51 und 53 gehörenden Teilnehmer "als gewaltbereit einzustufen" waren - Staatsschutz oder Veranstalter? Überprüfen konnte das Publikum die amtliche Darstellung anhand der Videodokumentation "CSD der Ratten" von Barbara Klingner. Darin waren nicht nur jene - im übrigen schwulen - Bullen zu sehen, die den linken Block am Ende des Demo-Zuges von Beginn an filmten, sondern auch die Umzingelung der Wagen und die für die Beamten völlig überraschende spontane Gegenwehr von rund 500 Lesben und Schwulen, die angesichts des polizeilichen Tuntenschubsens zur pazifistischen Waffe des unsittlichen Bullengrapschens griffen, was zeitweise deren Fluchtreflexe aktivierte.

In Abwesenheit der homosexuellen Staatsbürger drehte sich die betont sachliche Diskussion letztlich vor allem um die Konsequenzen aus den Ereignissen. Für Ahima Beerlage vom SO 36 ist jede weitere Zusammenarbeit mit den schwulen Bürgerrechtsvereinen bis auf weiteres unmöglich; ihre Toleranzgrenzen habe sie Jahr für Jahr weiter ausdehnen müssen, und nach dieser "sehr autoritären Antwort" habe sie genug davon, sich ständig zu verbiegen. Ähnlich äußerte sich Nykra Kalschnikowa von den Queerulanten, einer aus der schwulen Antifa hervorgegangenen Gruppe. Sie wolle keine Gesprächsangebote an "die andere Seite" mehr machen. Sie habe auch keine Lust mehr, sich mit schwulen Bankern oder Soldaten an einen Tisch zu setzen und wolle selbst entscheiden, mit wem sie sich gemein mache. Ohne Ergebnis blieb die Frage, ob man nun, wie 1993 und 1994, wieder einen eigenen CSD veranstalten und sich damit auch räumlich deutlich von der Kommerzdemo auf dem Kudamm distanzieren solle. Der Minimalkonsens "gegen Rassismus und Sexismus" wäre dafür eine brauchbare Basis; von dem aus könnten auch neue inhaltliche Diskurse beginnen. So argumentierten vor allem Lesben und Tunten. Männer hingegen plädierten eher dafür, den jetzigen CSD-Inhabern die Vorbereitung zu entreißen. Weitgehend einig war man sich darin, daß unter zunehmender staatlicher Repression neue Bündnisse über die schwul-lesbische Community hinaus nötig sind.

Voraussetzung dafür ist allerdings, daß man den Diskussionsfaden unter den sehr heterogenen linken Homo-Gruppen nicht abreißen lasse. Man einigte sich nach dreistündiger Debatte darauf, sich künftig einmal monatlich zu treffen (29. September, 19.30 Uhr, SO 36, Oranienstraße 190, Berlin-Kreuzberg), um neue Strategien zu erarbeiten. Die Debatte um den letzten CSD, so Ahima Beerlage, sei schon deshalb "am Kochen zu halten, weil da neun Ermittlungsverfahren laufen", u. a. wegen Sachbeschädigung, öffentlicher Aufforderung zu Straftaten, schwerem Landfriedensbruch, Körperverletzung, Gefangenenbefreiung, Nötigung und Strafvereitelung. Hier sei Solidarität gefragt. Die Justiz warte immer so lange, bis das Thema vergessen ist, und stelle dann die Strafbefehle zu, auf denen die Leute schließlich allein sitzen blieben.