Bewaffneter Marsch in die Institutionen

Mexiko: Das Zapatistische Bündnis der Nationalen Befreiung hat sich gegründet und plant die erste politische Kampagne - mit der oppositionellen PRD

Nach einem teilweise triumphalen Empfang in der Hauptstadt befinden sich 1 111 Zapatisten wieder in ihren chiapanekischen Gemeinden. Das Zapatistische Bündnis der Nationalen Befreiung (FZLN) hat sich nach einer schwierigen 20monatigen Startphase formell gegründet und will eine starke landesweite Bewegung werden. Der Nationale Ind'gena-Rat (CNI), ebenfalls im Rahmen des Aufstandes der EZLN entstanden, konsolidierte sich als wichtiges Forum für nahezu alle der offiziell 56 mexikanischen "Ethnien". Wenn es vor Wochen noch schien, als ob die im militarisierten Chiapas eingekesselten Zapatistas gegen das Vergessen ankämpfen müßten, so haben sie sich nun eindrucksvoll wieder in Erinnerung gebracht. Für die meisten der weit mehr als 100 000 Menschen, die ihnen auf dem Weg durch die Bundesstaaten Oaxaca, Puebla und Morelos sowie vor dem Nationalpalast in der Hauptstadt zujubelten, waren die Ind'genas Helden. Ob der symbolträchtige Marsch ins Zentrum der Macht und die vielfältigen Aktivitäten dort jedoch einen entscheidenden - und nicht nur vorübergehenden - Anstoß für die Politik in Chiapas und im ganzen Land geben können, ist nicht sicher. Verantwortlich dafür sind eine ganze Reihe von Faktoren.

Einer der wichtigsten ist der zukünftige Erfolg oder Mißerfolg des FZLN. Nach den gescheiterten Versuchen mit der Nationalen Demokratischen Konvention (CND) und der Bewegung der nationalen Befreiung (MLN) handelt es sich dabei nunmehr um den dritten und wohl letzten Versuch der EZLN, eine "politische Kraft neuen Typs" zu schaffen. Eine Bilanz nach dem mehrtägigen Gründungskongreß zu ziehen, ist schwierig, ebenso schwierig wie der weitere Weg der Organisation. Unzweifelhaft zeugte die Präsenz von etwa 3 000 Mitgliedern der im Vorfeld gegründeten Komitees, daß das FZLN langsam, aber stetig gewachsen ist. Die Basis ist inzwischen landesweit verteilt, wenn auch in unterschiedlicher Stärke. Die Kongreßteilnehmer bekräftigten noch einmal die Leitlinie, die die EZLN in ihrer Vierten Erklärung des Lacandonen-Urwaldes vorgegeben hatte. Das Bündnis soll sich als eine zivile, unabhängige, demokratische Massenbewegung konstituieren, die nicht nach der politischen Macht strebt, sondern die Herrschenden zwingen will, "gehorchend zu regieren". Daraus resultieren mehrere Probleme. Zum einen muß das FZLN sich dem Dilemma stellen, eine Abordnung der Zapatisten zu sein, aber nicht deren politischer Arm sein zu sollen. Dies erinnert ein wenig an die Quadratur des Kreises. Zumindest formell bleibt die Trennung gewahrt, nachdem während der FZLN-Gründung die EZLN durch ein Kommuniqué von Subcomandante Marcos überraschend verkündete, nicht direkt an dem Bündnis teilzunehmen. Als einen Grund führt Marcos die ständigen Interpretationsversuche der Regierung an, mit einer Teilnahme an dem Bündnis müßten die Zapatisten zwangsläufig zu einer unbewaffneten Kraft werden, die sich ins politische Leben des Landes eingliedert. Die Waffenabgabe steht aber für die EZLN nach wie vor nicht zur Debatte.

Eine Mehrheit fand sich auf dem Kongreß dafür, keine aktive Doppelmitgliedschaft in einer Partei und dem FZLN zu erlauben. Dies kann in Zukunft zu Interpretationsschwierigkeiten führen. Reicht es beispielsweise für ein Verbot der FZLN-Mitgliedschaft aus, im Register einer politischen Partei eingeschrieben zu sein, oder wird dies toleriert? Viele bisherige Aktivisten in den FZLN-Komitees sind Mitglieder der Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Ganz eindeutig ist nur, daß niemand im FZLN ein politisches Wahlamt oder einen Regierungsposten innehaben oder anstreben darf. Auch sind diejenigen ausgeschlossen, die die Tätigkeit in einer anderen sozialen Organisation zu ihrem bezahlten Beruf gemacht haben. Die Struktur des FZLN soll "horizontal", also ohne jegliche Führung sein. Die Entscheidungen werden - zumindest in der Theorie - auf der Ebene der sogenannten zivilen Dialogkomitees getroffen und dann von "Koordinationsteams" auf einen Nenner gebracht. Übergangsweise wird es eine nationale Verbindungskommission geben. Die Tragfähigkeit dieses Modells wird sich erweisen müssen.

Eine Minderheit stellte die ketzerische Frage, ob mittelfristig die Übernahme politischer Macht nicht doch erstrebenswert wäre, anstatt die Herrschenden nur zum "gehorchenden Regieren" zu zwingen. In diesen Zweifeln spiegelt sich das ambivalente Verhältnis sowohl der bewaffneten wie der zivilen Zapatisten und Zapatistinnen zur links-oppositionellen PRD wider. Bei aller Parteienschelte werden zumindest auf Teile dieser Partei, und insbesondere auf den neugewählten Bürgermeister der Hauptstadt Cuauhtémoc C‡rdenas, immer wieder Hoffnungen gesetzt. Das Verhältnis beider Seiten kommt des öfteren einer Haßliebe nahe. Unlängst äußerte Marcos die Erwartung, von Mexiko-Stadt aus könne sich mit C‡rdenas als wichtiger Figur das ganze Land demokratisieren.

Ein Nahziel, bei dem die Durchschlagskraft und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit der FZLN und anderer oppositioneller Gruppen auf die Probe gestellt werden könnte, ist eine landesweite Kampagne gegen die Militarisierung von Chiapas und anderen Bundesstaaten. EZLN, FZLN, CNI und PRD sind sich den Äußerungen nach an diesem Punkt weitgehend einig. Ebenso geht es darum, die Regierung zur Erfüllung des im Februar 1996 mit den Zapatisten getroffenen Abkommens von San Andrés zu zwingen. Das Thema dieser Vereinbarungen sind die Ind'genarechte und -kultur, den eigentlichen Kernpunkt bilden die Autonomieforderungen der Ind'gena-Gemeinden. Das Abkommen füllte viel Papier, änderte an der Realität aber wenig. Ein Entwurf zu einer neuen Ind'gena-Gesetzgebung samt Verfassungsänderungen durch die vermittelnde und parteiübergreifende Parlamentskommission Cocopa scheiterte in der vergangenen Legislaturperiode an den Einwänden von Präsident Ernesto Zedillo, dessen eigene Partei im Parlament niemals gegen ihn gestimmt hätte. Jetzt sind die Vorzeichen andere: Insgesamt mehr als 10 000 Mitglieder von EZLN, FZLN und CNI konnten sich über Grundzüge einer gemeinsamen Aktion verständigen, und im Parlament haben die Oppositionsparteien zusammen die Mehrheit. Das vergrößert die Chancen, dem Vorschlag der Cocopa doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Die PRD will die Initiative dazu in Kürze ergreifen.

Die Zapatisten haben die Gunst der Stunde erkannt. Statt sich über eine Neuaufnahme der seit September 1996 abgebrochenen Gespräche mit der Regierung Gedanken zu machen, wollen sie lieber mit der neuen Parlamentskommission zu Chiapas, der nationalen Vermittlungskommission von Bischof Samuel Ruiz sowie mit dem Gesamtparlament reden und so den Druck auf Präsident Zedillo und sein Kabinett erhöhen. Die regierende Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) ist immer weniger ein geschlossener Block, was der EZLN jetzt zugute kommt. Eine Verabschiedung des Ind'gena-Gesetzes würde den Zapatisten zudem den Rücken für die Forderung nach dem Truppenrückzug aus ihrem Einflußgebiet stärken. Erst danach sind nach dem Stand der Dinge wieder direkte Verhandlungen zwischen der EZLN und der Regierung denkbar, so sehr die Regierung nun auch plötzlich darauf drängen mag. Der Marsch der EZLN und der FZLN-Kongreß haben die Ausgangsbedingungen nicht grundsätzlich verändert. Aber sie haben gezeigt, daß die Zapatisten immer noch eine feste Größe in Mexiko sind. Bei insgesamt veränderten politischen Rahmenbedingungen haben sich die Perspektiven der EZLN wieder verbessert.