»ich bin ein faß«

Leben und Sterben des Südtiroler Dichters norbert c. kaser

Jean Cocteau behauptete einmal, die Schwulen (er gebrauchte selbstverständlich nicht dieses Wort) könnten einander auf 100 Meter Entfernung erkennen. Während ich Benedikt

Sauers Biographie des Dichters norbert c. kaser gelesen habe, wurde ich das Gefühl nicht los, ein alter Bekannter komme mir von weitem entgegen.

kaser (seine Texte schrieb er meistens, seinen Namen immer klein), in Südtirol 1947 geboren und 1978 gestorben, war das kränkliche Kind armer Eltern; sein Stiefvater arbeitete als Pförtner bei der Schafwollwarenfabrik in Bruneck, sein leiblicher Vater verunglückte tödlich, als der Junge zehn Jahre alt war.

Seine Mutter liebte und haßte kaser, er erfüllte und verwarf ihre "prinzipien"; er glänzte in der Schule durch Akribie und bestand dann als einziger in seiner Klasse die Matura nicht; er schmähte die Provinz und fühlte sich abgestoßen von der Großstadt; mit 21 hatte er bereits "genug von der Welt" und trat ins Kloster ein, um es ein Jahr später zu verlassen, weil es ihm zu weltfremd war; er erregte durch seine dissidenten Auftritte den Haß seiner deutschnationalen Landsleute, wollte aber kein Dissident sein; er suchte Anschluß an die Literatenszene, als man ihm aber ein Angebot machte, verbat er sich "in hinkunft jedwede telefonische oder schriftliche einladung zu literarischem techtelmechtel"; er lehrte wie Ludwig Wittgenstein in abgelegenen Dorfschulen in den Bergen, mußte aber die Lehrämter wieder quittieren, weil er sich weigerte, Curricula einzuhalten oder Formulare auszufüllen; er trat aus der Kirche aus, "da ich ein religioeser mensch bin"; er wollte die "flaschelfurzer erschießen die mao schreien ohne meine mutter gesehen zu haben" und trat in die KPI ein.

Selbst ein Außenseiter, verachtete er die "sudelarbeit extremer und infantiler außenseiter", die Parolen gegen das Verbot der Abtreibung an die Wand gesprüht hatten. Er trank, entzog und beschloß noch während der Entziehungskur, wieder zu trinken. Er genoß sein Leben, empfand es aber als mißlich, "immerzu aelter" zu werden. Mit 31 Jahren hatte er alles hinter sich.

kasers Vita liest sich, als ob sie ein Skeptiker als Exempel zu der Feststellung des Sextus Empiricus (2.Jh. u.Z.) erdacht hätte, die "geistig Höherstehenden" seien dahin gelangt "zu untersuchen, was wahr ist in den Dingen und was falsch, um durch die Entscheidung dieser Frage Ruhe zu finden. Das Hauptbeweisprinzip der Skepsis dagegen ist, daß jedem Argument ein gleichwertiges entgegensteht." Dabei unterscheidet sich das Leben dieses Dichters von dem anderer Menschen hauptsächlich dadurch, daß es ihm gelungen ist, die Gegensätze mehr als üblich zuzuspitzen.

Das Leben eines, der durch den Suff zugrunde ging, ruft die Psychologen auf den Plan, die die Notwendigkeit des Scheiterns aus dieser oder jener Ursache erklären wollen. Schon zu Lebzeiten kasers gab es einige, die zu wissen glaubten, die Kultur Südtirols sei es, die ihn umbringt, dabei ignorierend, daß er gerade die abgeschotteten Täler Tirols, in denen man ihn verehrte und anfeindete, nicht verlassen wollte - etwa, um in eine Stadt im Norden zu ziehen, in der er nur ein namenloser Dichter ohne Verlag gewesen wäre. Sauers Biographie gruppiert die Daten, um einen eigensinnigen Dichter, einen depressiven Neurotiker, einen christlichen Revolutionär in einer klerikal-reaktionären Umgebung zu zeigen, die all dies nicht duldete. Für ihn ist kaser einer, der die "Disziplinarapparate" (Michel Foucault) nicht überlebt hat. Die Frage, warum sich kaser ihnen - ob Kloster, Schule, Klinik oder Partei - immer wieder unterworfen hat, wenn auch häufig in der Absicht, sie von innen zu ändern, bleibt offen.

Eine anderes Schema hat Sauer so auffällig ausgespart, daß sich mir gerade dadurch der Eindruck aufdrängte, hier könnte der Schlüssel liegen: Nur beiläufig erwähnt der Biograph kasers "Zuneigung auch zu Männern". Dabei erinnert vieles, was von kaser mitgeteilt wird, an das gewöhnliche Schicksal eines Homosexuellen in der Provinz: die Haßliebe zur Mutter und der abwesende Vater, die Übererfüllung der Erwartungen und ihre Verweigerung, die Flucht ins Mönchische und Abgeschiedene oder in die Großstadt, die Angst vor den "anlagen", die er in sich vermutete, und die Anteilnahme am Tod Pasolinis ("seine achillesferse war seine homosexualitaet"). Im besonderen natürlich seine literarischen Zeugnisse, z.B. sein erotisches Gedicht über Sebastian, jenen Heiligen, der, wie Louis Réau ("Iconographie de l'art chrétien") bedauerte, im 20. Jahrhundert den Schwulen in die Hände fiel: "mit der nacht kommen / engel seine todeswunden / lecken".

Möglicherweise ließe sich mit diesem Muster sogar vereinbaren, daß er "von jemandem zu traeumen versuchen (wollte) der rosmarie heißt", einer Ostberliner Modezeichnerin, mit der er einen einzigen Tag gemeinsam verbracht hatte und die verläßlich von ihm getrennt war. Aber auch auf diese Weise vermutend und sich einfühlend, würde man sich kaum anders verhalten als Dr. Pinzello, der Psychiater, der die "wunde zu finden" hoffte, der "ich mein saufen verdanke". kasers Reaktion auf diese ärztliche Bemühung fiel eindeutig aus: "Du trottel siehst Du denn nicht daß alles an mir wunde ist oder alles gaudium oder alles 'tanz'. wenn Du mich fragen wuerdest warum ich denn schreibe so koennt ich Dir genausowenig antwort geben. (Ö) daß ich Dir keine einzige minute meines lebens auch nur leihweise abtreten wuerde begreifst Du nicht. ich bereue nichts keine lira keinen tropfen wein keinen haß keine traene keine liebschaft keine sexuellen ausfluege keinen schiß. zum x-tenmal gehen wir ergebnislos auseinander."

Das Ergebnis könnte nur ein Verstehen sein, das wegerklärt, weil es erklären will. Marcel Prousts Verwahrung dagegen, von seinen Neurosen kuriert zu werden, weil er geheilt nicht mehr schreiben würde, gehört hierher.

Die Aufgabe einer Biographie wäre eigentlich, ein Leben fremd zu machen, es aufzulösen. Da sie das, kurzgefaßt und erzählend, wie sie sein muß, selten leisten kann, obliegt auch dies dem Leser: die Person, die er eben noch zu erkennen glaubte, wieder in ihre Gegensätzlichkeit und Unbestimmtheit zu entlassen.

norbert c. kaser hat, soweit er sich - vor allem in seinen monologisierenden Briefen - selbst erdichten konnte, die Schematisierung nach Kräften behindert. Seine besten Gedichte besitzen Sprödigkeit und Lakonie, oft an Kinderreime oder Volksdichtung angelehnt, mit mundartlicher Färbung, aber der Folklore selbst feind. Die Abstraktion meidend, weil er doch "mit den leuten reden" wollte, aber ohne Zugeständnisse an den bäuerlichen Geschmack. Spöttisch, vor allem aber sich selbst verspottend. Sein letztes Gedicht schrieb er, als durch die Leberzirrhose sein Körper aufgetrieben war und seine Gestalt an die einer Schwangeren gemahnte: "ich krieg ein kind / ein kind krieg ich / mit rebenrotem kopf / mit biergelben fueßen / mit traminergoldnen haendchen / & glaesernem leib / wie klarer schnaps // zu allem lust / & auch zu nichts // ein kind krieg ich / es schreiet nie / lallet sanft / ewig sind / die windeln / von dem kind / feucht & naß // ich bin ein faß".

Benedikt Sauer: norbert c. kaser. Eine Biografie. Haymon, Innsbruck 1997, 316 S., DM 46