Marx und Maus

Nochmal: Linke Massenkultur. Der semidokumentarische Film "East Side Story" erzählt die Geschichte des sozialistischen Musicals

Weil die Filmarchive in Osteuropa seit dem Ende des Sozialismus neu sortiert werden, erreichen seltene Filmdokumente auch den internationalen Markt. Nachdem sich zumindest das Berliner Publikum an Wiederaufführungen von Filmen wie "Baumeister des Sozialismus" (1953) oder "Daß ein gutes Deutschland blühe" (1959) erfreuen durfte, kursiert in den Kinos derzeit mit "East Side Story" eine Dokumentation über das sozialistische Musical. Die in Bukarest geborene 33jährige Regisseurin Dana Ranga arbeitete bisher im TV- und Radiobereich, unter anderem drehte sie 1993 einen Dokumentarfilm über Frauen in der Moldawischen Republik.

Mit Stalin, so erfährt man in "East Side Story", sei das Musical in die sozialistische Filmwelt gekommen. Das Genre sei eigentlich als erzkapitalistisches verhaßt gewesen; denn "reine Unterhaltung", dachte man, lenke vom Aufbau der sozialistischen Gesellschaft ab. Gegen ein wenig Pep aber habe der Parteiführer nichts gehabt. Wie Lenin sah Stalin im Kino die wichtigste Form der Massenkultur im 20. Jahrhundert. Ab Ende der dreißiger Jahre besang man also in sowjetischen Musikfilmen wie "Wolga, Wolga" (1938) Traktor, Produktion und Landesverteidigung. Nach Stalins Tod habe man das Musical dann wieder in die Arsenale der Filmkunst verbannt.

Allerdings nur für kurze Zeit. Bald entstanden weitere Produktionen in den "Bruderstaaten". In der DDR der fünfziger Jahre gingen viele Kinobesucher in Aufführungen von westlichen Filmen, das parteipädagogische Programm fand weniger Anklang. Die "Thälmann"-Filme wurden zuweilen als bieder empfunden, und die internationale Popkultur machte auch vor den sozialistischen Staaten nicht halt. Mit der tat man sich traditionell in der Linken schwer, wie mit allen Formen von Spaß. Doch trat auch hier ein, was auf anderen Gebieten der Gesellschaft die Regel war. Man versuchte nicht mehr unbedingt, den Kapitalismus zu überwinden, sondern trat in Konkurrenz zu ihm. Komplementär zu Rogers, Astaire und Kelly sah man sich singende Schweinehirten, tanzende Matrosen, sozialistische Sommerferien im Kino an - und hätte sich 1989 nicht alles so rapide verändert, würde man heute vielleicht sowjetische Dinosaurierfilme disputieren können.

Dem US-amerikanischen Musical war in den fünfziger Jahren die vollständige Verschmelzung von Songs, Tanz und Handlung gelungen: "Gesang und Tanz bedürfen keiner Erklärung mehr" (Robert Müller). Diese Kombination faszinierte: Der Film "The Sound of Music", entstanden 1965, war lange Zeit der kommerziell erfolgreichste Film überhaupt. Die Wirkung des Titel-Pendants "West Side Story" (1960) mag sich jeder selbst erklären. Die erste Bühnen-Aufführung in der DDR fand übrigens 1983 in Leipzig statt.

"East Side Story" referiert unter anderem die Geschichte des ersten DDR-Musikfilms "Meine Frau macht Musik" (1957). Die Gattin eines Warenhausleiters entschließt sich auf Anraten eines Sängers, ihre Stimmkünste zu erproben. Ihr Mann findet daran keinen Gefallen, ehe ihn der Erfolg eines besseren belehrt. Den biederen Gatten spielt Günther Simon, ausgerechnet der Darsteller des "Thälmann" in Kurt Maetzigs Film, in dem er schon mal singen üben konnte ("Einen Finger kann man brechen, aber fünf sind eine Faust"). Da das Musical nach wie vor als Exklusiv-Genre der "Verwestlichung" oder "Amerikanisierung" galt wie alle populären Kulturformen ("Ami, go home" kommentierte zum Beispiel die DDR-Zeitung Junge Welt einen Auftritt des Rock'n'Roll-Sängers Bill Haley in West-Berlin 1958), war das schon ein besonderer Affront. Gerade deswegen - populäre Kultur ist eben die Begleiterscheinung moderner Massengebilde, wie eben auch DDR eines war - lief "Meine Frau macht Musik" sehr erfolgreich. Der "Soundtrack" tourte schon vor der Erstaufführung durch die Radiosender. Es folgten Produktionen wie "Revue um Mitternacht" nach einer Geschichte von Kurt Tucholsky (1962, eine Million Zuschauer in zwei Monaten) oder "Geliebte weiße Maus" (1964), die zudem zu Exportschlagern wurden. Einen weiteren Höhepunkt der Tanz- und Singkultur verzeichnet "East Side Story" mit "Heißer Sommer" aus dem Jahre 1967, an dem nicht unbedingt jeder seine Freude hatte: "Die Erlebnisse von Oberschülern und -schülerinnen während ihres Ferienaufenthaltes an der Ostsee", urteilt etwa das Katholische Filmlexikon, "dienen als dünner Handlungsfaden für unbeholfen-langweilige Musik- und Tanzeinlagen." Das DDR-Publikum jedenfalls fand sich in den Geschichten vom alltäglichen Leben im Sozialismus wieder, in dem Maße, wie sich eine Schicht proletarischen Kleinbürgertums konsolidierte, das nach neuen Unterhaltungsformen verlangte. "Heißer Sommer" brachte die Showgrößen Frank Schöbel, den man schon mal "Zonen-Elvis" nannte (er spielte eine ähnliche Rolle wie Peter Krauß in Westdeutschland), und Chris Doerk vor die Kamera. Ehemalige DDR-Bürger schildern diesen Film heute noch als ihr spezielles Jugend-Erlebnis. Mit seiner Mischung aus "Spaß, Romantik und Urlaubsstimmung" (Ranga) bot er dem Publikum eine Projektionsfläche für die Entstehung einer explizit realsozialistischen Teenager-Kultur.

Dana Ranga arbeitet das vergessene Kapitel Filmgeschichte ironisch auf. Drei streng gekleidete Frauen (Andrea Schmidt, Brit Krüger, Barbara Hanisch) treten zwischen Interviews mit Schauspielerinnen und Regisseuren und Filmausschnitten wie im dokumentarischen Theater auf, um die Zielsetzungen sozialistischen Filmschaffens zu verkünden - eine Anspielung auf die restriktive Kulturpolitik, mit der sich Regisseure konfrontiert sahen. Eine eigene Moral brachte eine eigene Zensur hervor. Bei der Diskussion um die angemessenen Formen der Darstellung sozialistischen Begehrens argumentierte man bisweilen mit Brecht gegen Brecht ("Theater ist dazu da, die Menschen zu unterhalten"). Der moralischen Rigidität setzt Ranga in "East Side Story" den Slogan "Auch im Sozialismus wurde getanzt und gelacht" entgegen, sie fällt ein bisweilen sarkastisches Urteil über die Versuche der vergangenen Epoche, eine originäre populäre Kultur zu schaffen. "East Side Story" ist damit in gewisser Weise paradigmatisch für den gegenwärtigen Umgang mit linken Items im Film. Dokumentiert er einerseits die sozialistische Kulturproduktion und weckt das Interesse an ihr, soll er andererseits den Zuschauer zum Lachen bringen.

Sicher kann man bei einem bundesweit mit 15 Kopien startenden Film nicht unbedingt von einem Retrophänomen "Sozialismus" reden. Dennoch werden hier allgemein als Teil einer früheren Ära rezipierte Gegenüberstellungen wie jene von Basis und Überbau, die These von den Klassenantagonismen auf sehr deutliche Weise angesprochen. Obwohl vom Sozialismus wenig übrig blieb, wird die Leiche hier sowohl gefleddert wie wiederbelebt. Bei US-Kritikern jedenfalls löste "East Side Story" einige Begeisterung aus. "Dieses Kompendium an verrückten marxistischen Musicals stellt alles auf den Kopf" (New York Daily News).

Mag es vorerst nur das Kompendium sein: Der Marxismus ist eben eine verrückte Theorie, mit der es zuweilen gelingt, allerlei auf den Kopf zu stellen, das hätte auch der jüngst verstorbene Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski unterschrieben. Vor allem ist "East Side Story" eine unter kapitalistischen Bedingungen entstandene Erzählung davon, wie zeitweise die Zentralkomitees und Kulturproduzenten gedachten, die Massen dort abzuholen, wo sie stehen - die "kleinbürgerlichen indifferenten Schichten ins Kino zu holen" (Ranga), die den Parteiversammlungen fernblieben. Jene Schichten auf dem Gebiet der früheren DDR kommen manchmal beim Ostalgie-Fernsehsender MDR auf ihre Kosten, wo Filme wie "Geliebte weiße Maus" hin und wieder gezeigt werden.

Bei aller ironischen Brechung oszilliert der Film zwischen Denunziation und Darstellung, indem mit ihm nicht nur ein Teil der osteuropäischen Alltagskultur, sondern auch der Sozialismus - als gefahrloser Ideengeber ästhetischer Konventionen - selbst rezipiert wird. In den Grenzen des spätbürgerlichen Kulturbetriebs, in dem er zur Zeit sein Dasein fristet.

"East Side Story". D 1997. R: Dana Ranga, B: Dana Ranga / Andrew Horn, D: Andrea Schmidt, Brit Krüger, Barbara Hanisch. Vagabundiert ab heute durch bundesrepublikanische Kinos. In Berlin schon angelaufen