Neuköllner Dorfidyll

Gefährliche Orte V: Mit Präventionsprojekten sollen Berliner Krisenregionen befriedet werden

Zweimal die Woche treffen sich die Berliner Polizisten in der Gegend zwischen Kottbusser Tor und Volkspark Hasenheide an der Grenze der Bezirke Neukölln und Kreuzberg. Doch Zeit für einen ruhigen Plausch über die jüngsten Niederlagen von Hertha BSC bleibt ihnen kaum, denn sie halten sich an einem gefährlichen Ort auf. Darum wird auch nicht über Abwehrschwäche und Stürmerproblem debattiert oder über die Tatsache, daß Hertha nach sieben Spieltagen immer noch die Chance hat, einem anderen Berliner Fußballclub, Tasmania 1900, den Rekord der schlechtesten Bundesligasaison aller Zeiten abzujagen. Tasmania hatte nach sieben Spieltagen immerhin schon einen Sieg zu verbuchen. 1965 war das, und man kann sich gut vorstellen, wie damals auf den Polizeiwachen über die bitteren und hohen Niederlagen der Tasmanen geschimpft wurde.

Heute ist das anders. Trotz einer Polizeidichte, die auch in der Weltspitze gut mithalten kann, muß hier nämlich jeder einzelne Beamte noch hart arbeiten. Seit Juni ist der Kiez Schauplatz für polizeiliche Schwerpunkteinsätze. Michael Wilhelm, Leiter der zuständigen Polizeidirektion 5, gibt die Resultate der Sondereinsätze im Krisengebiet bekannt: 3 646 Personen wurden überprüft, bei denen man immerhin eine Pistole, je acht Messer und Fahrräder, 3 000 Zigaretten, zehn Handys und 68 Kilo leichtverträgliche Rauschgifte sicherstellen konnte, 493 der Überprüften wurden festgenommen. Wilhelm will damit "den Dealern die Geschäfte vermasseln" und verspricht die Razzienpolitik fortzuführen. Die Analytiker der B.Z. geben ihm recht: "Mehr Festnahmen, mehr Anzeigen, mehr Ordnung. Prima! Berlins Polizei räumt auf", lautet die Schlagzeile am Tage nach der Verkündung des offiziellen Zwischenergebnisses, die man schöner nicht selbst hätte erfinden können.

Schlimmer als in New York? Zumindest innerhalb der Polizei nähert man sich dem New Yorker Standard an, wie zum Beispiel der jüngste Prozeß gegen 16 mißhandelnde Beamte zeigt. Der erhöhte Streß bei der Arbeit wirkte sich auch am Hudson River aus: Während außerhalb der Polizeiwachen die Kriminalitätsrate fiel, stieg sie innen. "Kriminalität bedroht die Lebensqualität", stellt CDU-Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky jeden Tag, an dem er gefragt wird, fest und schließt messerscharf: "Ich will Polizei auf Straßen und Plätzen!" Da ist sie doch schon längst, meint Wolfgang Wieland von den Berliner Bündnisgrünen und stellt ein großes Umleitungsschild auf: "Die Polizei muß in den Kiez zurück!" Immerhin zweimal die Woche ist sie auch schon da.

So weit hätte es aber gar nicht erst kommen müssen. Berlin soll friedlicher werden. Und ganz so weit ist es auch noch nicht. "So weit wie in New York sind wir hier zum Glück noch nicht", meint auch Lothar Brose, der in der Landeskommission "Berlin gegen Gewalt" als Psychologe die Modellprojekte zur "kiezorientierten Gewalt- und Kriminalitätsprävention" betreut. Zwei dieser auf zunächst zwei Jahre angelegten Pilotprojekte gibt es in Berlin: Seit Januar arbeitet der Präventionsrat in Friedrichshain, und seit April wird auch in Neukölln Vorbeugung geübt. In Friedrichshain spielen Polizisten mit den Kids Streetball, in Neukölln trinken Richter mit verurteilten Jugendlichen nach der Verkündung des Strafmaßes Tee.

Im Neuköllner Testgebiet zwischen Werbellin- und Schierkerstraße leben rund 15 000 Menschen, die seit den Sommerferien verstärkt mit sozialarbeiterischen Maßnahmen überzogen werden. Dabei funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeit und Polizei sehr gut, wie Brose bescheinigt. Daß die andauernden Polizeieinsätze die Präventionsarbeit behindern könnten, glaubt er nicht: Die Sozialarbeiter versuchen zu vermitteln. "Die anderen müssen dann auch mal zugreifen."

Das neue "Berliner Modell" wurde im August 1996 ins Leben gerufen und soll nach der Probephase möglichst auch auf die anderen Stadtbezirke übertragen werden. Unter "Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte" sollen die gefährlichen Orte per "Sozialkontrolle und informeller Sanktion" wieder sicher gemacht werden, wie es im Jargon der Innenverwaltung heißt. Die überbezirkliche Koordination der Projekte liegt bei der Landeskommission, die Maßnahmen vor Ort werden von Präventionsräten in den Bezirken betreut. Unter Vorsitz des Bürgermeisters sind hier das Jugendamt, Elternvertretungen, die Glaubensgemeinschaften, Wohnungsbaugesellschaften, die Polizei und andere Gruppen an den Gesprächen beteiligt.

Um die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, plant die Landeskommission für November eine "kriminalpräventive Woche". Was das konkret sein soll, weiß auch Lothar Brose nicht. Bei der Lokalen Agenda, die die Aktivitäten in Neukölln koordiniert, ist man sich noch gar nicht so sicher, ob der Termin auch wirklich eingehalten werden kann. "Und danach fängt gleich der Weihnachtstrubel an", sagt der Leiter der Lokalen Agenda, Matthias Steinmann. Man müsse den Termin wohl auf Januar verschieben. Was dann passieren soll, kann er auch noch nicht so genau sagen. Momentan arbeite man daran, im Projektgebiet den Gemeinsinn zu fördern. "Wer vorher schon mal miteinander geredet hat", meint Steinmann, "verprügelt sich hinterher nicht." So einfach ist das auf dem Lande.

Von den begleitenden Polizeiaktionen ist Steinmann aber nicht so richtig überzeugt. Die Razzien seien zwar "sinnvoll und konsequent", man dürfe die Leute aber auch nicht vor den Kopf stoßen. Denn die staatliche Gewalt könne auf der Straße als Bruch des gerade gewonnenen Vertrauens aufgefaßt werden: "Die könnten dann zurückschießen." Noch fühlt Steinmann sich in Neukölln jedoch sicher am "gefährlichen Ort": "Ich kann da problemlos durchgehen."

Die Präventionsprojekte in den Bezirken proben den Rückgriff auf dörfliche Strukturen, die auf die Berliner Kieze übertragen werden sollen. "Nachbarschaftlicher Ansatz" nennt Steinmann das, der Bürger solle selbst wieder Verantwortung übernehmen; die Polizei räumt dann später auf: Eine Art praktizierter Neoliberalismus im Bereich der Inneren Sicherheit. Per neighbourhood watch und ausgedehnter Sozialkontrolle kann man so den öffentlichen Straßenraum und den privaten Bereich gleichzeitig kontrollieren. Das ist billig und effektiv. Man braucht nur ein paar Sozialarbeiter, die alles organisieren.

Vom letzten "Berliner Modell", das 1977 eingeführt wurde, sind noch heute Überreste sichtbar, nämlich die uniformierten Kontaktbereichsbeamten, die auf dem Gehweg immer so freundlich grüßen und später Autos abschleppen lassen. Die Relikte des neuen Modells könnten die U-Bahn-fahrenden BGS-Truppen sein, die Bundesinnenminister Manfred Kanther seinem Berliner Kollegen Jörg Schönbohm bescherte. Im Rahmen der "Aktion Sicherheitsnetz"

- gemeint ist offenbar das Berliner

U-Bahn-Netz - wird das Sonderkommando zunächst in den beiden Modellbezirken Neukölln und Friedrichshain patroullieren.