Das Maul gewischt

Fischarts "Geschichtsklitterung" in einer bibliophilen Auswahlausgabe

Schon Jean Paul war der Ansicht, daß man "aus Fischarts Werken allein ein Wörterbuch erheben" könne. Und er hatte dabei wohl vor allem dessen "Geschichtsklitterung" im Auge. In der Tat. Wer seinen Sprachfundus etwas auffüllen will mit originellen Wortbildungen, witzigen Metaphern, derben Anachronismen und "affentheuerlichen" Sprachspielen (mit besonderer Berücksichtigung des Skatologischen), der sollte beim Lesen dieses Werks Augen und Ohren offen, Papier und Bleistift bereit halten. Da wimmelt es nur so von etymologischen Kostbarkeiten wie "Pißkachel" und "Bruntzscherbe" (Nachttopf), "Strohfidel" (Schlampe), "Haußhagel" (zänkische Ehefrau) - und dem gar zu schönen "Bettanstand" (weibliche Willfährigkeit). Fröhliche Renaissance, wo die Menschen bisweilen "bachschnadrig" (naß), "mollentrollig" (verbummelt) sind, eine "dachtropfige Nase" haben, und wo der profane Scherz noch "Gugelfuhre" heißt. Man könnte so fortfahren.

Wir schreiben das Jahr 1574. Johann Fischart, gen. Mentzer, ist soeben zum Doktor der Jurisprudenz promoviert worden und schlägt sich in Straßburg als Übersetzer, Herausgeber und freier Schriftsteller für den Verlag seines Schwagers durch. Offenbar weil er sich davon ein lohnendes Geschäft verspricht, faßt er den Plan einer Übertragung der schon damals berühmten Scholastiker-Satire "Gargantua und Pantagruel" von Rabelais. Bereits im Jahr darauf, 1575, erscheint die erste, 15 Jahre später die dritte und letzte Fassung, nun unter jenem Titel, der Fischart über seinen Tod hinaus berühmt gemacht und ihm einen festen Platz in der Literaturgeschichte eingebracht hat: "Affentheurlich Naupengeheuerliche Geschichtsklitterung". Freilich, angenommen hat er sich nur des "Gargantua", des ersten Buches der fünfbändigen Satire. Es schildert die Kindheits- und Jugenderlebnisse des freß- und sauflustigen Riesenkönigs Gargantua, der zwölf Monate im Mutterleib ausharrt, durchs linke Ohr geboren, mit Wein genährt wird und sich frühzeitig mit seinen Kinderfrauen vergnügt, der "köstliche weiß, das Gesäß zu wischen", erfindet, nach Paris geht, gegen den König Pikrochulus in den Krieg zieht, sich dort heldenhaft schlägt und schließlich die Abtei Thélèm gründet, in der die völlige Freiheit herrscht und in der es nur ein Gesetz zu beachten gilt: Tu, was du willst.

Und auch diesen ersten Band hat Fischart nicht eigentlich übersetzt. Zu Recht bemerkt Jean Paul, er sei mehr Rabelais' "Wiedergebärer als Übersetzer". Er fügt eigene Kapitel ein, läßt andere mit einer geradezu neurotischen Aufzählungswut, mit langen Bestsellerlisten, Attribut-Ketten und mehrseitigen Synonymkatalogen ("Mentzer-Kletten") bis zum zehnfachen Umfang aufschwellen, gießt die Handlung "in einen Teutschen Model" um - und er verändert die Tendenz der Satire. Während Rabelais den überkommenen Wissenschaftsbetrieb, die Rechtsprechung, Erziehung und das selbstgefällige Gebaren der Theologen - alles das, was dem Liberalitäts- und Rationalitätsanspruch der Humanisten zuwiderlief - der Lächerlichkeit preisgibt, modelt Fischart den Text zur Moralsatire um. Er schickt sich an, die Verrohung der Sitten, den Verfall der Bürgertugenden darzustellen, gibt "ein verwirretes ungestaltes Muster der heut verwirrten ungestalten Welt", um sie von ihrer "verwirrten ungestalt und ungestalter verwirrung abzufüren und abzuvexieren". Das brillanteste und verwirrenste Beispiel für Fischarts satirischen Hyper-Realismus ist die berühmte "Truncken Litanai". Eine hörspielartige Klang-Collage eines ausgelassenen Zechgelages, das sich allmählich zum wüsten Bacchanal steigert. Eine rüde, reich instrumentierte Kakophonie aus Gesprächsfetzen, Stimmengewirr, Sprüchen, Redewendungen und zeitgenössischen Saufliedern: "Duck dich Seel, es kommt ein Platzregen: den wird dir das Höllisch Feur wol legen. Mir zu: ich bin ein Birstenbinden. Was? habe ich eine tode sau geschunden, daß mir keiner kein bringt: Ich hab ein Igel im Bauch: der muß geschwummen haben. Sih da, der Wirt der ist der best, wird vil völler dann die Gäst. Ey seit getrost lieber Wirt: Den liebsten Bulen den ich hab, der ligt beim Wirt im Keller. Er hat höltzins Röcklin an, und heißt der Moscatteller ... Nun wolauff ihr Ordens Brüder: Ein Liedlin sing ein jeder: So kommets an mich wider ... Wer hie mit mir will frölich sein, dz Glaß will ich ihm pringen: Wer trinken will den guten Wein, der muß auch mit mir singen ... Hol Wein, schenck ein, wir wollen frölich sein, wer aber nicht will frölich sein, der soll nicht bei uns bleiben, wir trincken drumb den guten Wein, die sorgen zuvertreiben, drumb Bruder mein, ich bring dir das, so vil vom Wein, ist dem inn dem glaß ... Meydlin sind dir die Schuhe recht, bei nachte, bei nachte, halt dich Annele feste. Du bist mir lieber dann der Knecht, pum Meydle pum. Ich freu mich dein gantz umb und umb, freu dich Stiffelbrauns Meidelein, ich kumm ich kumm, ich kumm." Und so weiter.

Fischart zeichnet ein satirisch-detailscharfes Bild vom Grobianismus und der Sittenlosigkeit seiner Zeit. Allein, gerade in den skrupulösen und schier ausufernden Detailschilderungen kommt die Sprache am Ende zu sich selbst. Sein virtuoser Pointillismus überschreitet die Grenzen des Realismus, dem er sich verschrieben hat, und ist streckenweise bloße Sprachmusik, polyphones Wortgeklingel. Auch und gerade wenn er, wie so oft, seiner zwanghaften Neigung zum Wortspiel nachgibt und durch Modifikationen der Orthographie die Begriffe mit zusätzlichen - nicht nur erotischen oder koprophilen - Bedeutungen anreichert: Ärzte, lateinisch Medici, bezeichnet er als "Merdici" und zeigt so unmißverständlich, was er von ihrer Kunst hält; Rhetorik ist diesem ausgepichten Redekünstler mitunter "Redtorich" (törichte Rede); und das Fremdwort melancholisch wird zu "maulhenckolisch" eingedeutscht - und durchaus veranschaulicht (denn wer melancholischer Stimmung ist, läßt natürlich sein Maul hängen!).

Dieser - den barocken Gallimatthias bereits vorwegnehmende - Manierismus Fischarts ist zunächst wohl sprachtheoretischen Überlegungen geschuldet. Er will die "für sich selbst bestendige Teutsche sprach" in ihrem ganzen Reichtum präsentieren und damit den unmißverständlichen Beweis erbringen, daß sie ebenfalls "uralt" und somit dem Griechischen und Lateinischen absolut ebenbürtig sei - wenn nicht sogar insinuieren, daß sie die eigentliche Ursprache sei, aus der sich alle anderen Sprachen entwickelt haben. Vielleicht offenbart Fischarts Flucht in die Worte aber auch etwas von der tiefen existentiellen Zerrüttung des frühmodernen Renaissance-Menschen, dem alles fragwürdig geworden ist, dem nach der allmählichen Diffusion des mittelalterlichen Ordo keine unmittelbare positive Norm mehr zu Gebote steht und dem als einziges tragfähiges Fundament nur mehr die Sprache geblieben ist, auf die er sich folgerichtig zurückzieht. Dann wäre die "Geschichtsklitterung" auf einer zweiten Ebene doch wieder so etwas wie ein "Muster" der "verwirrten ungestalten Welt" Fischarts.

Formbewußte und -begabte Schriftsteller haben immer schon mit diesem Verbalstrom ihre eigenen literarischen Äcker bewässert. Seien es nun die Alten, Grimmelshausen, Lessing, Jean Paul, Brentano und sogar Goethe, oder Jüngere wie Arno Holz, in besonderem Maße Arno Schmidt (der Fischart als einen Vorläufer seiner im Spätwerk extensiv praktizierten etymistischen "Verschreibungskunst" beansprucht), Grass und Borges. Um nur einige zu nennen. Das große Lesevolk allerdings hielt sich fern von diesem Romankunstwerk sui generis, jedenfalls seit dem 17.Jahrhundert. Daran wird die soeben in der "Anderen Bibliothek" des Eichborn-Verlags erschienene, ebenso bibliophile wie lesefreundliche Auswahlausgabe wenig ändern. Immerhin, die vor allem typographisch außerordentlich gelungene Edition erleichtert den Einstieg in den kruden Fischart-Kosmos und macht dem einen oder anderen vielleicht Appetit auf mehr. Der Buchkünstler Franz Greno hat die unabdingbaren Bedeutungserklärungen und Sachkommentare direkt in den Originaltext interpoliert (fett und lindgrün steht die "Geschichtsklitterung" da, und der Kommentar rückt durch die dezenten schwarzen Lettern angenehm in den Hintergrund). Für den Unkundigen, der sich dennoch in diesem dichten Sprachwald verirrt hat, bietet die ebenfalls beigegebene schlichte neudeutsche Übersetzung der einschlägigen "Gargantua"-Kapitel grobe Orientierung. Mehr kann man nicht tun, jetzt liegt es am Leser: "Sauffts gar auß, dann halb trinken ist bettlerisch, es ertrinckt im Mör kein Fisch: jetzt das Maul gewischt, unnd dahinden gefist, fisten vb: furzen so seit ihr zum lesen gerüst."

Johann Fischart: Affentheuerlich Naupengeheurliche Geschichtsklitterung. Mit einem Auszug aus dem Gargantua des Rabelais, einem Vorwort von Wolfgang Hörner und einem Glossar von Ute Nyssen. Eichborn Verlag, Frankfurt/ Main 1997, 407 S., DM 58