Die Mordthese stiftet Pseudoradikalität

Auch die radikale Linke wollte immer nur den besseren Staat.

Ein Erkennungszeichen wirklich radikaler Linker war es lange Zeit, die staatliche Selbstmordversion der Stammheimer Todesnacht zu bestreiten. Viele von ihnen führen - soweit heute noch vorhanden - seit 20 Jahren mit stichhaltiger Beweisführung den Staat als wahrscheinlichen Täter vor. Ob es die privat recherchierende Christiane Ensslin ist, oder Autoren wie Pieter Bakker Schut, K-Gruppen wie der frühere Kommunistische Bund in seiner Zeitung ak oder die autonome und antiimperialistische Szene: Radikal ist, wer die Mordthese stützt.

Zwar spricht für die Annahme des staatlich in Auftrag gegebenen Mordes wirklich fast alles. Doch wozu das heftige Insistieren auf dem wahrscheinlichen Tatverlauf? Woher die auftrumpfende Verzweiflung, die aus dem jüngsten ak-Titel spricht: "Wir glauben immer noch nicht an Selbstmord"?

Die Antwort ist einfach: Das mutige Aussprechen der Wahrheit sollte gleichzeitig die eigene radikale Identität festigen und Grundlage einer Aufklärungsarbeit sein, die Gegnerschaft zum demokratischen Rechtsstaats wecken sollte - zwei Klassenziele, die nicht erreicht worden sind.

Wie es mit den zu schürenden Zweifeln stand, wurde schon 1987 deutlich, als das gesamte radikale Spektrum das zehnjährige Jubiläum seiner Gegenaufklärung feierte. Damals saßen zum Beispiel in einem Hörsaal der Universität München zwei heutige Bahamas-Redakteure zusammen mit KB-Genossen und Christiane Ensslin einem mehr als 500köpfigen Auditorium gegenüber und freuten sich ihres Mobilisierungserfolgs. Das Publikum war jedoch nur deswegen so zahlreich gekommen, weil es die Schwester der berühmten Terroristin sehen wollte, die damals durch die ganze Republik weitergereicht wurde.

Die kritischen Burschen und Mädel folgten gebannt der Hobbydetektivin Ensslin, deren Kausalketten anscheinend zum Mittüfteln einluden. Mit der Folge, daß nicht nur in München die Veranstaltung zu einem Rate- und Kniffelspiel unter reger Publikumsbeteiligung geriet: "Könnte es nicht vielleicht auch so gewesen sein, daß Andreas Baader die Pistole ...?" Spannende Unterhaltung für kritische Staatsbürger, die eine Gänsehaut bekamen bei der Vorstellung, daß ihr Staat damals vielleicht doch gemordet haben könnte. Es war offensichtlich, daß selbst im unwahrscheinlichen Fall, daß das Münchner Uni-Gericht auf die Frage, "Wie würden Sie entscheiden?", auf Mord plädiert hätte, daraus niemand die Billigung der Praktiken und Ziele der Toten abgeleitet hätte oder sonstwie in radikale Gegnerschaft zum Rechtsstaat getreten wäre.

Angefangen beim KB, der damals irgendwo am Rande der Grünen Staatsfeindlichkeit predigte und Realpolitik vorantrieb - also statt Staatskritik zu üben, den besseren, sozialistischen Volksstaat herbeisehnte -, war sich auch die gesamte Linke mit Ausnahme der Antiimps darin einig, daß die RAF so gut wie alles falsch gemacht habe. Der Mißerfolg der Stadtguerilla wurde in ihrer (unfreiwilligen) Massenfeindlichkeit und in ihrem existentialistisch anmutenden Sprung in die bewaffnete Tat gesehen. Wenn man die Gefangenen und die Toten dennoch "auf unserer Seite der Barrikade" sehen wollte, dann allein deshalb, weil schließlich auch die RAF vom Volksstaat fabulierte und sich aus Toten Märtyrer machen und aus Märtyrern politisches Kapital schlagen ließ - auch wenn es nur Identität geheißenes Falschgeld war.

Die radikale Linke muß von Glück sagen, daß der Staat damals nicht aufgrund einer Panne die Morde hat zugeben müssen. In diesem unwahrscheinlichen Falle nämlich hätten sie Schwarz auf Weiß gehabt, was nicht nur sie längst wußte: daß dieser Staat wie jeder Staat im Zweifel über die Leichen seiner Gegner gehen würde. Sie hätte darüber hinaus bestätigt bekommen, was Volkes Stimme schon während der Tage der Landshut-Entführung jedem, der es hören wollte, anvertraute. Der zum höchsten Grad der Rechtsstaatlichkeit genötigte Staat durfte auf die volle Zustimmung seiner pogrombereiten Subjekte zählen.

Doch auch in dieser Situation hätte das deutsche Volk von seiner Linken den Persilschein ausgestellt bekommen: wegen berechtigter Bedürfnisse nach Sicherheit, enstanden durch politisches Abenteurertum der RAF und bedauerliche Verhetzung durch die reaktionären Medien. Persilscheine, die es seit 1989 nur so hagelt, ausgestellt zum Beispiel von Knuth Mellenthin, dem Chefideologen des ak. Mellenthin, der die Wiedervereinigung guthieß, weil die Massen sie wollten, und der den linken Reißmüller abgegeben hat, als es darum ging, die Zerschlagung Jugoslawiens im Namen des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu rechtfertigen, bekennt in Erinnerung an die Ermordeten, daß "in dieser Konfrontation (RAF vs. Staat, J.W.) der zugespitzte Ausdruck eines tatsächlich antagonistischen - zu deutsch unversöhnlichen - Widerspruchs" gelegen habe, "in dem sich eine authentische Linke gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Staat befinden muß." (ak, Nr. 406) Noch in der leninistischen Phrase steckt der deutsche Kern. Authentisch heißt auf Deutsch nicht nur "original, echt, zuverlässig", sondern eben auch "anerkannt, rechtmäßig, verbindlich" (Ethymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin (Ost) 1989) - Qualitäten, aus denen sich völkische Identität gewinnen läßt, aber keine emanzipatorische Kritik. Andreas Baader hätte vor dem Revolutionstribunal authentischer deutscher Linker erneut schlechte Karten.