Fetisch Länderschwerpunkt

Zwei Ausstellungen anläßlich der Frankfurter Buchmesse bieten eine solide Einführung in "Portugals Moderne" und "Portugiesische Photographie"

Wer kennt Portugal? Wer kennt Portugals Kunst? Wer kennt mehr als Fer-nando Pessoa, mehr als das "Buch der Unruhe" und "Ein anarchistischer Bankier"?

Wir sehen, die Sache bereitet Probleme. Wir dürften nicht die einzigen sein, die angesichts des diesjährigen Buchmessenschwerpunkts hin und wieder mit den Schultern zucken. Um der Unwissenheit des Publikums zu begegnen, sind daher abseits der Messehallen zwei sehenswerte Ausstellungen eingerichtet worden. Der Frankfurter Kunstverein zeigt "Portugiesische Photographie" aus 150 Jahren, die Kunsthalle Schirn lädt zur Besichtigung von "Portugals Moderne" ein; dort beschränkt man sich indes auf "Kunst in der Zeit Fernando Pessoas", auf die Jahre zwischen 1910 und 1940.

"Portugals Beitrag zur europäischen Kunst in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ist erst noch zu entdecken", heißt es, und eine solche Entdeckung muß durch Verallgemeinerungen, Verkürzungen, Analogien und andere Kontextualisierungen erleichtert werden. 113 Exponate umfaßt die Schau, überwiegend Gemälde und Zeichnungen, aber auch einige Skulpturen und Titelblätter jener Zeitschriften, in denen sich modernistische Literatur und Kunstkritik seit den zehner Jahren etablierten.Was lernen wir beim Gang durch die chronologisch aufeinander folgenden fünf halboffenen Räume, von denen jeder einer "Bewegung", einer Stillage, einer dominanten ästhetischen Doktrin gewidmet ist? "Wir lernen den herausragenden Souza-Cardoso kennen", weiß der Kurator, einen, wie die Diktion des um Didaktik bemühten Kunsthistorikers verrät, europäischen Maler von Rang, der zwischen universalistischen Parametern verkörpern muß, was im Überblick "das Portugiesische" der hier präsentierten Künstler ausmache.

Die zum Teil krautig übersetzten Texte des Katalogs leiden unter ihrer Überfrachtung mit vermeintlich gesicherten historiographischen Urteilen, mit (kunst)-wissenschaftlich erhärteten und daher allzuoft schlecht abstrakten Kategorien, die Bilder erschließen sollen, die zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb Portugals zugänglich sind. Neben den Abriß der politischen Geschichte Portugals treten Werk-Interpretationen nach Maßgaben des kunstgeschichtlichen Kanons: Das Unbekannte wird suggestiv als das Bekannte exponiert. Um eine erste Annäherung an den fremden Gegenstand zu ermöglichen, scheint dieser Weg trotzdem gangbar. Was wir unter "Moderne" in der Malerei zu verstehen haben, bleibt dessenungeachtet offen; außer, man verstünde darunter die Identifikation bestimmter Ausdrucksformen mit schulbuchmäßigen Klassifizierungen.

Der Leitfaden also ist die Wiedererkennung. Schritt für Schritt läßt sich rekonstruieren, wie auf den kontemplativen Naturalismus und die zuweilen romantisierenden Genre- und Landschaftsbilder von Ant-nio Carneiro die erste Avantgarde der Humoristen folgt. Sie verwirft den Akademismus, die Getragenheit, die Behäbigkeit tradierter Malerei. 1909, ein Jahr vor der Revolution, erscheint Marinettis futuristisches Manifest als Übersetzung. 1912 findet in Lissabon die "1. Humoristenausstellung" statt, der Karikaturist Christiano Cruz erklärt den "Krieg gegen die alten Hüte". Später lösen an Kirchner geschulte kleinformatige Ölgemälde die Zeichnung ab, meist "Kriegsszenen".

Die Jahre von 1909 bis 1919 gelten als "Zeit der Brüche", ihr Protagonist ist Amadeo de Souza-Cardoso. Er repräsentiert, noch bevor die literarische Modernismo-Bewegung durch Zeitschriften wie Orpheu oder Ex'l'o Gestalt gewinnt, konsequent die Hinwendung zur Moderne. Hand in Hand mit dem Bruch geht die Anerkennung dessen, was - malerisch - avanciert sei. Solche Aneignung, beispielsweise des Kubismus, resultiert bei Souza-Cardoso aus seinen Aufenthalten in Paris. Während Pessoa, der Dichter des Heteronyms, der Provinzialität Lissabons sprachlich entkommt und deklamiert: "Ich bin Europa!", suchen bildende Künstler direkten Kontakt zu den Produktionsverhältnissen des Modernen. Zurückgekehrt nach Portugal, entstehen kubistische Graphit-Zeichnungen, auf denen sich orphische Elemente mit inventarisierten Motiven des Expressionismus verbinden.

Souza-Cardoso erklärt man heute zum Prototypen der portugiesischen Modernisten. Permanent kombinierte er Stillagen und Genres, rekurrierte auf "Volksmythologien" und betonte zugleich die Unumkehrbarkeit des "Beginns", des epochalen Bruchs. Sein vielgestaltiges, breit gezeigtes Îuvre trägt die Züge fortgesetzten Studiums, ja scheint, bevor die Moderne politisch vereinnahmt und institutionalisiert wird, den Wandel, das Experiment zu verewigen. Souza-Cardoso betreibt die geometrische Auflösung der Körper, dynamisiert die Bildebenen und fordert, unter dem Eindruck der orphischen Lehre Delaunays, die Befreiung von Farbe und Form.

Die Interpretation bereite Schwierigkeiten, hören und lesen wir erneut - und möchten uns anschließen. Wir blicken schon längst nicht mehr durch. Der Katalog, ein wahrer Steinbruch, bietet positivistische Erklärungen, skizziert Künstlerbiographien und versucht ein Bild von jenen Milieus zu zeichnen, die in der "städtischen Euphorie der zwanziger Jahre" entstanden. Zunächst kündigen Souza-Cardosos Collagen "Schreibmaschine" und "Coty" (beide 1917) jedoch einen weiteren - der Moderne und ihrer rasanten Evolution geschuldeten - Schritt an, jenen zum Dadaismus. Glauben wir den Historiographen, ist damit "analog zu den Neuerungen in Europa" eine Klimax des malerischen Modernismus erreicht, der Mitte der zwanziger Jahre vom gediegenen Realismus etwa Abel Mantas abgelöst wird.Vereinzelt reagiert man auf die "Rückkehr zur Ordnung". José de Almada Negreiros, der 1917 die "I. Futuristische Konferenz" initiiert hatte, kommentiert das Ende der Avantgarden mit einer Arbeit für das Lissabonner Café A Brasileira, dem "Selbstporträt in Gruppe" (Öl, 1925), einer Tischszene von grell ausgeleuchteter Morbidität: "Das Bild ist eine Metapher für die Situation der nur oberflächlich kosmopolitischen portugiesischen Moderne und deren Auflösungsprozeß sowie für das Scheitern ihrer Bestrebungen innerhalb des nach wie vor konservativen Intellektuellenkreises." (Katalog)

Für Portugal galt Anfang des Jahrhunderts, was heute schäbig "Randlage" heißt: keine nennenswerte Industrialisierung, agrarisch und handwerklich strukturierte Kleinökonomien. Sie bildeten die Grundlage einer korporatistisch verfaßten Republik, in der das Militär, der Klerus und rechte Kräfte peu ˆ peu den "Faschismus ohne Massenbewegungen" etablierten. 1926 sind sämtliche Fraktionen des Liberalismus in die Knie gezwungen, weitgehend gefestigt ist der Estado Novo, der neue Staat. 1930 wird der "Erste Salon der Unabhängigen" ausgerichtet. Nach der bereits allenthalben vollzogenen Revitalisierung der naturalistischen Tradition forciert Salazar, mittlerweile "Regierungsvorsitzender", jetzt kunstpolitische Aktivitäten. "Die Kunst, die Literatur und die Wissenschaft bilden die große Fassade einer Nationalität", verkündet er, die ästhetischen Postulate der klassizistischen Plastik (Hein Semke) und einer "Harmonie des Gesehenen" leisten ihr übriges.

1935 stirbt Pessoa. Parallel zur inoffiziellen Staatskunst setzt sich in Zeitschriften wie der presen ç a, einem Periodikum, für das Pessoa kontinuierlich gearbeitet hatte, die methodische Introspektion durch. Bedeutendster Vertreter solch neuer "Mystik des Individuums" war M‡rio Eloy. Er entwarf surrealistische Welten, in denen farbliche Emotionswerte "expressionistisch", wie Sachverständige hervorheben, Bedeutung erlangten. Diesem obsessiven Psychologismus korrespondiert Negreiros Beschwörung des "mythischen Portugal". Spätestens hier treten nun Disparitäten so stark hervor, daß sich die Proklamation einer geschlossenen portugiesischen Moderne nur mehr durch eine synoptische Darstellung rechtfertigen läßt. Noch sind wir - auch nach Lektüre des Katalogs - sehr dumm. Das mag sich ändern - sofern man über den Fetisch "Länderschwerpunkt" hinaus weiterführende Forschungen anpeilt. Denn die Spezifika der portugiesischen Moderne werden sich erst erschließen lassen, wenn die politischen Bedingungen, unter denen ästhetische Avantgarden und oppositionelle Strategien entstehen, hinreichend aufgeklärt sind.

Vorerst bleibt es bei der Immanenz des kunsthistorischen Diskurses, bei Abfolgen, Überlagerungen, Kreuzungen und Verwerfungen, wie sie das Material selbst evoziert. Schlecht muß das nicht sein.

"Portugals Moderne 1910-1940 - Kunst in der Zeit Fernando Pessoas." Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main. Bis zum 30. November; Katalog: 48 Mark.

"Portugiesische Photographie". Kunstverein Frankfurt/Main. Bis zum 23. November; Katalog: 59 Mark.

Hinweis: Im Zürcher Ammann Verlag erscheint zur Buchmesse eine neue Ausgabe der Werke Pessoas.