Sezessionisten auf der Siegerstraße

Jugoslawien zerfällt in immer kleinere Ethno-Parzellen

Die Wahlen in Serbien und Montenegro brachten zwar kein Ergebnis, das sich amtlich verkünden ließe, übermitteln aber vielleicht gerade deshalb ein genaueres Stimmungsbild aus den jugoslawischen Teilrepubliken, als es eine der zufälligen Sonntagslaune der Wählerschaft geschuldete Entscheidung hätte bieten können. In Serbien beteiligten sich mit 44 Prozent der Berechtigten immerhin so wenige an der Stichwahl, daß Vojislav Seselj, der Anführer der Radikalen Partei (SRS), den man schon wegen seiner Freundschaft mit Le Pen einen Faschisten nennen darf, von den Macht-Institutionen ferngehalten werden konnte - obwohl er mit 49,9 Prozent die meisten Stimmen einheimste und deshalb vorschnell, aber nicht ganz zu Unrecht, eine "unaufhaltsame Radikalenlawine" durchs Land rollen sieht.

Den Kandidaten der Sozialistischen Partei (SPS), Zoran Lili ç , der das Präsidentenamt wegen verfassungsrechtlicher Zwänge im Sommer von Slobodan Milosevic, dem gegenwärtigen Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, übernahm, gewährten 46,9 Prozent der Wähler die eher unsichere Perspektive auf die Weiterführung seiner Regierungsgeschäfte. Die Sozialisten meinen zwar, daß Lili ç bei den nun notwendigen Neuwahlen, die das sich neu konstituierende Parlament veranlassen wird, mehr Chancen hätte, wenn der von der Nato protegierte Musterdemokrat Zoran Djindji ç nicht erneut zum Wahlboykott aufriefe.

Aber nicht nur in Belgrad werden die Verhältnisse für die SPS zunehmend ungemütlicher, sondern auch in dem Föderationsland Montenegro. Rund 20 Prozent der serbischen Bevölkerung - die Albaner in der Provinz Kosovo und die Muslime im nördlichen Sandzak - boykottierten nicht nur die Wahlen, sondern verweigern seit Jahr und Tag jegliche Zusammenarbeit mit den serbischen Behörden.

Bei den Wahlen in Montenegro, die parallel zu denen in Belgrad stattfanden, konnte sich der sozialistische Kandidat, der amtierende Präsident Momir Bulatovic, nicht durchsetzen. Bei einer Wahlbeteiligung von 67 Prozent wählten ihn gerade mal 2 272 mehr als den aus der Föderation mit Serbien hinausdrängelnden Gegenkandidaten Milo Djukanovic, der bereits Ministerpräsident ist. Eine Stichwahl soll am 19. Oktober stattfinden. Daß Milosevics Thron nun wackelt, liegt aber weniger an der schwindenden Macht seiner Partei, denn diese spiegelt lediglich den weiteren Zerfall Jugoslawiens wider, das deswegen seit Jahren nur noch als Rest-Jugoslawien bezeichnet wird. Schließlich holt Milosevic nur die verdorbene Ernte dessen ein, was er vor knapp zehn Jahren säte, als er dem in Jugoslawien aufkommenden Sezessionismus mit ideologischen Ausflügen zum mittelalterliche Amselfeld zu Leibe rücken wollte. Damals stärkte er das archaischen Wir-Gefühl der serbischen Nation gegenüber der bis dato dominanten Idee eines föderativen Jugoslawien.

Ob sich die Fernsehhelden der letztjährigen Demonstrationen - der wirre Vuk Draskovic und der smarte Djindjic - noch leiden können, ob die Opposition sich spaltet oder zum Boykott aufruft: Was die hiesigen Kommentatoren so sehr beschäftigt, interessiert in Jugoslawien eigentlich niemanden mehr. Die Entwicklung zeichnete sich bereits vor einem Jahr so deutlich ab, daß lediglich erstaunt, wie lange der Eindruck gewahrt werden konnte, diese eigenartige Opposition könnte den Laden noch zusammenhalten. Die einzigen Meinungsmacher, die dies hierzulande von Anfang an in Frage stellten, waren die Herausgeber und Redakteure der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie hielten sich erst gar nicht bei den "Menschenmengen" auf, die nach den serbischen Kommunalwahlen im November durch die Belgrader Straßen zogen, zu denen sich "offenbar ganz Unterschiedliches" zueinandergesellte, deren Ausdauer "kaum belohnt" wurde und die nicht zuletzt deshalb "auf der Stelle" traten, weil die Arbeiter keine Anstalten machten, sich ihren Protesten anzuschließen. Statt dessen setzten sie den Hebel gleich da an, wo es sich lohnte - an dem "von Milosevic geschaffenen Kunstgebilde", der "instabilen Bundesrepublik Jugoslawien": "Mindestens ebensoviel wie von der Haltung der Arbeiter hängt von der Reaktion der Minderheiten ab. Serbien ist ein ethnisch sehr heterogener Staat. Was den Serben jetzt bei den Kommunalwahlen widerfuhr, kennen die Muslime im Sandzak, die Albaner auf dem Amselfeld, die Ungarn und schon gar die Kroaten in der Vojvodina seit mehr als einem halben Jahrzehnt." Abgesehen von Bosnien sei "derzeit kein Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien so instabil" wie die Bundesrepublik Jugoslawien. Wäre Milosevic am Ende, stünde auch die Zukunft dieses "Kunststaates" zur Disposition.

Diesem Urteil schloß sich Bundesaußenminister Klaus Kinkel an, als er sich am 6. September in Hamburg zu einem "Meinungsaustausch" mit Ibrahim Rugova traf, dem selbsternannten Präsidenten der Kosovo-Albaner, der mit Abstand größten und radikalsten Sezzessionistengruppe Serbiens: Ohne eine "Lösung der Probleme ethnischer und nationaler Minderheiten" könne es keinen Frieden geben. Das "Kosovo-Problem" sei nicht mehr ein internes Problem der Bundesrepublik Jugoslawien, sondern "angesichts seines Destabilisierungspotentials ein Problem Europas und der Internationalen Staatengemeinschaft". "Das internationale Scheinwerfgerlicht muß auf den Kosovo gerichtet werden." Die albanischen Studenten in Pristina, der Provinzhauptstadt des Kosovo, verstanden dies als Aufforderung und organisierten im Vorfeld der Belgrader Wahlen eine Auseinandersetzung mit der serbischen Polizei. "Ich bedauere sehr", so Kinkel tags darauf, "daß der Appell zu Besonnenheit und Zurückhaltung bei den serbischen Sicherheitsbehörden ungehört verhallt ist. (...) Im Kosovo steht die Stabilität der gesamten Region auf dem Spiel. Was dort geschieht, ist keine innere Angelegenheit der Bundesrepublik Jugoslawien. (...) Das Scheinwerferlicht der internationalen Öffentlichkeit ist auf den Kosovo gerichtet."

Es mag verfrüht sein, die Eröffung eines EU-Büros in Pristina vergangene Woche als ersten Schritt zu einer "internationalen Überwachung" des Kosovo zu interpretieren, wie sie von den Albanern gefordert wird. Doch wie bei der Zerlegung Bosniens in ethnische Parzellen liegt sie bereits in der Logik der Sache.