Wer hat Hintzes Schuhe?

Der Fall Matthias Hintze erschüttert nicht nur die Berliner Presse, sondern auch die Diskussion um die Innere Sicherheit

"Nach dem Oderhochwasser", sagt der Mann vom ORB-Fernsehen, "hat Brandenburg nun das zweite große Medienereignis in diesem Jahr." Wie schon bei den Fluten des Sommers geht es um brechende Dämme an der Oderfront: "Die Einwanderung nach Deutschland muß eingedämmt werden", folgert Brandenburgs Innenminister Alwin Ziel aus den Ereignissen der vergengenen Wochen. Die Geschichte handelt von der Entführung und Ermordung von Matthias Hintze, der am Mittwoch vergangener Woche bei Röbel an der Müritz in einem zugeschütteten Erdloch tot aufgefunden wurde. Ein Verbrechen von "brutaler Bestialität" oder "bestialischer Brutalität", so sicher ist sich der ORB-Mann da noch nicht.

Der 20jährige Matthias Hintze wurde am 14. September mutmaßlich von den beiden Russen Vjatscheslaw Orlow und Sergej Serov in seinem Heimatort Geltow entführt. Beide wurden in der letzten Woche festgenommen, haben Teilgeständnisse abgelegt und die SOKO "Matthias" fast vier Wochen nach der Entführung zur Fundstelle des Opfers geführt. Dazwischen liegen vier versuchte und gescheiterte Geldübergaben, diverse orthographisch problematische Erpresserbriefe - u.a. mit dem berühmten Polaroid-Foto von Matthias in der Grube -, hektische Polizei-Ermittlungen, betroffene Berichte in den einschlägigen Medien und eine Menge Mutmaßungen. Die fingen mit dem Fund der Leiche jedoch erst richtig an.

"Er hatte keine Schuhe an", verkündete Oberstaatsanwalt Hans-Dieter Bamler auf einer Pressekonferenz. Bild und B.Z. waren sich anschließend nur uneinig darin, ob er sie "aus Verzweiflung" oder "vor Hunger" aufgegessen hat. Charlie Chaplin trieb in "Goldrausch" eine Kombination beider Motivationen zum Stiefelverzehr. Die waren jedoch zumindest gekocht. Die seriöse Berliner Zeitung vermutete dagegen, daß Orlow und Serov die Schuhe einfach geklaut haben. Zweimal, sagen die Entführer, hätten sie Hintze etwas zu Essen gebracht, danach ist er verdurstet. Bei der ersten Lösegeldforderung über eine Million Mark am 18. September war er demnach vermutlich schon tot. Oder zumindest fast.

Noch einmal von vorne: Am 14. September, einem Sonntag, kam Matthias Hintze abends unterschiedlichen Angaben zufolge entweder von einem Kneipenbesuch in Potsdam oder einer Technoparty in Schwerin ins Geltower Haus seiner Eltern zurück. Danach muß er seine Entführer getroffen haben. Oder sie ihn, das ist noch unklar. In der selben Nacht wurde er noch einmal im nahen Glindow im Kofferraum seines eigenen Mercedes gesichtet. Zwei Tage später wird der ausgebrannte BMW der Entführer in Schmergow gefunden. Sonst gibt es keine Spuren. Die Entführer melden sich kurze Zeit später am Telefon - mit russischem Akzent! Sofort ist die Russenmafia im Spiel.

"Es hätte jeden unserer Söhne und Töchter treffen können", die Täter wollten nur Hintzes Wagen klauen und dann noch mal abkassieren, hätten völlig wahllos zugeschlagen, vermutet Detlef von Schwerin, Potsdamer Polizeichef. Dabei fuhr Hintze nur einen alten Mercedes 230 C und die Entführer einen nagelneuen goldfarbenen 5er-BMW. Es muß also mehr dahintergesteckt haben. Das vermutet auch die Berliner Zeitung und präsentiert als einziges Blatt die These von der "Beziehungstat": Täter und Opfer kannten sich, machten miteinander Geschäfte (Drogen?), Hintze schuldete den beiden Russen 150 000 Mark, die er ihnen nicht bezahlen konnte und die sie sich nun anders beschaffen wollten.

Ohne Erfolg. Alle Geldübergabeversuche waren so schlecht geplant, daß sie eigentlich gar nicht klappen konnten. Und die Erpresserbriefe waren nur auf schmuddelige Zettel geschmiert. Überhaupt können Orlow und Serlov deswegen gar nicht von der Russenmafia sein: "Zwei Einzeltäter, kleine Dilettanten", konstatiert Hubert Dreyling, ein Berliner Anwalt und Mafia-Experte. Trotzdem bleibt die B.Z. dabei, schließlich hatte der BMW ein russisches Kennzeichen. Der BMW war außerdem angeblich schon Tage vor der Tat in Geltow gesehen worden, und in dem 2 000-Seelen-Kaff gibt es seit kurzem einen Spielsalon mit russischen Besitzern - also: "Geldwäsche!" (B.Z.).

"Raus mit der Russenmafia!" wird daher im Geltower Friseursalon gefordert. Und im Handyladen gegenüber heißt es: "Wenn das jemand mit meinem Kind machen würde, da würd' ich mir 'ne Kalaschnikow nehmen!" Die müßte sich die besorgte Mutter aber wohl vorher bei der Russenmafia besorgen. Kein Problem, denn die "gehört längst zum Stadtbild von Berlin", so Bild. Davon ist auch Dierk Homeyer, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Brandenburger Landtag, überzeugt, denn der Fall Hintze "macht deutlich, daß der Kriminalitätsraum Brandenburg-Berlin längst im Würgegriff osteuropäischer Krimineller ist".

Höher die Deiche! Bundesinnenminister Manfred Kanther will in Zukunft für 1 500 zusätzliche BGS-Beamte an der Ostgrenze sorgen. Aber Vorsicht: "Mit verschärften Grenzkontrollen ist die Zuwanderung von Kriminellen aus dem Osten nicht zu stoppen", sagt Uwe Schmidt, der Berliner Chefermittler für Organisierte Kriminalität. Andreas Schuster von der Gewerkschaft der Polizei in Brandenburg nickt mit dem Kopf, Kanthers BGS-Leute helfen gar nicht, Abkommen mit den osteuropäischen Staaten müßten her, um dafür zu sorgen, daß aus Deutschland abgeschobene Straftäter dort auch wirklich den Rest ihrer Strafe absitzen. Schließlich seien gerade Russen und Rumänen "besonders brutal".

Serov ("Das Hirn", Bild) und Orlow ("Sein Helfer", Bild) gehören zu jenen Leuten, die in Deutschland rechtskräftig verurteilt wurden und der gängigen Handhabe folgend nach zwei Dritteln der abgebüßten Haftzeit nach Rußland zur Weiterbestrafung abgeschoben werden. Das sei doch eine prima Abschreckung, meint der TV-Innenpolitiker Dagobert Lindlau ("Der Mob"): "Russen empfinden den Strafvollzug in Deutschland doch im Vergleich etwa zu Usbekistan als Erholung." Aber zur Gewährleistung, daß sie dort auch wirklich weiter sitzen, fehlt den Sicherheitsexperten das passende Abkommen. Nur so konnte es passieren, daß Serov und Orlow vor kurzem wieder nach Deutschland einreisen und sich eine Wohnung in der Schmargendorfer Nachbarschaft von Innensenatssprecher Thomas Raabe mieten konnten. Brandenburgs Innenminister Ziel ist sich dennoch sicher: "Die ganze Härte des Gesetzes wird sie treffen." Im Berliner Kurier war schon von abgehackten Händen die Rede.

Mitleid für die Angehörigen kommt nicht nur von Ministerpräsident Stolpe, sondern auch von Pfarrer Jürgen Fliege: "Das ganze Volk kannte ihren Jungen, liebe Familie Hintze." (B.Z.-Kommentar) Das ganze Volk kannte ihn aber nur von dem berühmten Polaroid und einem Porträt in Bundeswehr-Montur. Einer unserer Soldaten, die gerade noch so heldenhaft gegen das Hochwasser gekämpft hatten als Opfer der Russenmafia? Ganze drei Wochen war Matthias Hintze beim Bund, und das auch nur, weil er seinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu spät gestellt hatte. Im nächsten Jahr wollte er eigentlich eine Zivildienststelle antreten.

Und mit der Russenmafia hatte er auch nichts zu tun, beteuert sein Freund Ronny Fischer gegenüber der B.Z.: "Klar warf er sich mal Ecstasy in der Disko ein. Aber er dealte nicht." In der Berliner Zeitung heißt der Freund Ronny Seiler und sagt: "Er war ein guter Typ, einer mit langen Haaren. Er hat in der Freiwilligen Feuerwehr mitgemacht und Skat gespielt." Ein guter Junge, darum noch mal Pfarrer Fliege: "Das Entsetzen, daß es Menschen ohne Gewissen gibt, ist tiefer als das Loch in der Müritz." Und höher als die Deiche an der Oder.