Wir glauben nicht an Selbstmord

Die Linke gibt sich selbst auf, wenn sie die Version des Staatsschutzes übernimmt.

Helmut Schmidt kann zufrieden sein. Lange Zeit habe es Menschen gegeben, die überzeugt waren, die RAF-Gefangenen seien in Stammheim ermordet worden. "Ich glaube aber, heute gibt es kaum noch einen, der das glaubt", triumphierte er in einem Zeit-Interview am 4.Juli. Drei Tage zuvor hatte die taz-Kulturredakteurin Mariam Niroumand "Abschied von Gestern" genommen. In dem Blatt, das auf dem Tunix-Kongreß im Januar 1978 gegründet wurde, um der freiwilligen Gleichschaltung der Medien im Herbst 1977 entgegenzutreten, schreibt sie zwanzig Jahre später: "Mein alter Feind Helmut Schmidt, plötzlich verstehe ich, in welcher Lage er war, und daß der Konflikt zwischen dem, was Breloer im Interview Staatsräson nennt, und der Rettung eines individuellen Lebens kein Popanz war." Heute weiß Niroumand: "Sich umstandslos die Sache des Staates zu eigen zu machen", ist mitunter "nicht die schlechteste Sache". Zwar seien Strauß und Zimmermann im Krisenstab sogar dafür eingetreten, jede Stunde vor laufender Kamera einen der Terroristen zu erschießen - doch das ist für sie ein Grund mehr, im Nachhinein Helmut Schmidt zu glorifizieren. "Daß es dazu nicht gekommen ist und daß Schmidt am Ende auch auf eine Siegerpose verzichten konnte, hat mir gezeigt, daß die good guys von damals doch irgendwie gewonnen haben." Daß Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader am 18. Oktober (in Stammheim) und Ingrid Schubert am 12. November (in Stadelheim) nicht vor laufenden Fernsehkameras, sondern lediglich vor laufenden Überwachungskameras zu Tode kamen, wird in ihrem Artikel nicht erwähnt.

Der Grund für die Zweifel an der offiziellen Version vom Tod der Gefangenen war nicht lediglich das Gefühl, dem Staat sei alles zuzutrauen. Es waren vielmehr die offensichtlichen Ungereimtheiten der offiziellen Version. Rechtsanwalt Karl-Heinz Weidenhammer, Wahlverteidiger von Jan-Carl Raspe, kam nach fast zehnjähriger akribischer Recherche 1986 zu dem Schluß, daß "keines der für die Selbstmord-Behauptung vorgebrachten wesentlichen Beweismittel" einer kritischen Überprüfung standhalten könne. Über zehn Jahre später ist keine der Fragen, die Weidenhammer damals in einem über 500 Seiten dicken Buch zusammenfaßte, beantwortet. Nur werden die Fragen heute nicht mehr gestellt.

Zum Beispiel: Wie soll sich der Linkshänder Baader in einem schwierigen Verrenkungskunststück mit der rechten Hand ins Genick geschossen haben? Warum spricht ein staatliches Gutachten aufgrund von Schmauchspuren von einem aufgesetzten Genickschuß, ein anderes von einer Schußentfernung von 30 bis 40 Zentimetern? Wie konnte sich Gudrun Ensslin mit einem Kabel erhängen, das riß, als ihre Leiche abgehängt wurde? Warum bezeugte der Beamte, der den Toten Raspe als erster entdeckte, daß dieser seine Waffe noch in der Hand hatte - wo es doch zu den einfachsten kriminologischen Wahrheiten gehört, daß einem Selbstmörder immer die Waffe aus der Hand fällt? Vor allem die entscheidende Frage, wie Baader und Raspe an Waffen kommen konnten, obwohl sie die Zellen mehrmals wechseln mußten und ständigen Durchsuchungen ausgesetzt waren, bleibt offen und kann auch nicht mit den in letzter Zeit häufig zitierten Aussagen der RAF-AussteigerInnen erklärt werden. Selbst wenn deren Aussagen nicht nur der Preis waren, den sie zahlen mußten, um in den Genuß der Kronzeugenregelung zu kommen, würde damit lediglich erklärt, daß sich die Gefangenen darum bemühten, in den Besitz von Waffen zu gelangen. Aber wie hätten sie das bewerkstelligen sollen? Die in Stammheim bei der Durchsuchung aller BesucherInnen verwendeten Metallsonden reagierten selbst auf Stecknadelköpfe im Hemdkragen oder Pfennigstücke in der Hosentasche. Weidenhammers bis heute gültiges Fazit: "Die Herkunft, ganz zu schweigen von dem Weg der Waffen in die Anstalt, ist unaufgeklärt."

Von offizieller Seite wird seit 1977 alles getan, um eine Aufklärung zu verhindern. Für die Aufklärung der Todesumstände entscheidende Routinetests wurden bei den Toten aus unerfindlichen Gründen nicht durchgeführt. Unabhängige GutachterInnen wurden bei den Untersuchungen nicht zugelassen. Die Abhörprotokolle aus den Stammheimer Gefangenentrakten sind bis heute ebenso streng geheim wie die Protokolle aus dem Krisenstab.

Noch vor zehn Jahren wurden die Forderungen nach Veröffentlichung dieser Dokumente nicht nur von außerparlamentarischen Gruppen, sondern auch von grünen Politikern erhoben. Ein Rückschritt mit Konsequenzen: Als 1993 in Bad Kleinen Wolfgang Grams zu Tode kam, gab es außerhalb linksradikaler Kleingruppen niemand mehr, der

die Version des Staatsschutzes in Zweifel zog, wonach Grams sich im Fallen selbst erschossen haben soll. Solange sich an diesem naiven Staatsvertrauen nichts ändert, wird nicht nur an ein Wiedererstarken der Linken nicht zu denken sein.

Auch die sogenannten Selbstmorde werden nicht aufhören.

Peter Nowak gehört zum Bündnis "Deutscher Herbst", das in Berlin Aufklärungs- und Diskussionsveranstaltungen zu den Ereignissen im Oktober 1977 durchführt: Humboldt-Universität, Raum 3038 , am 18. 10. (16 Uhr) und am 22.10. (19.30 Uhr), sowie am 25. 10. im Buchladen Kisch & Co., Oranienstraße 25 (19 Uhr)