Aufbruch in den Dauerstreit

Das Wahlprogramm der Grünen bringt verdrängte Konflikte wieder auf die Tagesordnung

Als "Stück aus dem Tollhaus" beschimpfte Bundesaußenminister Klaus Kinkel den neu vorgelegten Programmentwurf von Bündnis 90/Die Grünen. Deren eigener Fraktionssprecher Joseph Fischer meinte, das Papier sei "dürftig" und legte gegenüber der FAZ noch eins nach: Wenn man mit diesen Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik in Koalitionsverhandlungen mit der SPD gehe, würden sich "sozialdemokratische Positionen pur" durchsetzen. Allerdings, lavierte Fischer, dessen Ambitionen auf das Außenministerium als offenes Geheimnis gelten, "innergrün" stelle das Programm schon einen großen Fortschritt dar, wenn man es mit Positionen des letzten Wahlprogrammes vergleiche.

Ausgerechnet das Kapitel "Außenpolitischer Aufbruch ins 21. Jahrhundert", das die Autorinnen und Autoren des Programms an den Schluß des Entwurfs verbannten - wohl eingedenk der Grabenkämpfe, die bei den Grünen um dieses Thema entbrannten, als große Teile der Bundestagsfraktion dem Bundeswehr-Einsatz in Jugoslawien zustimmten - verursachte sofort Stürme der Entrüstung bei der Parteirechten. Die Forderungen nach Halbierung der Bundeswehr und Abschaffung der Wehrpflicht sind so wenig wie die Absage an die Osterweiterung der Nato geeignet, den Beifall eines Klaus Kinkel oder eines Joseph Fischer zu finden. Der vorläufige Höhepunkt der Absurdität wurde am Freitag vergangener Woche erreicht, als ausgerechnet Parteisprecherin Gunda Röstel, die vier Tage zuvor zusammen mit ihrem Sprecherkollegen Jürgen Trittin den Entwurf vorgestellt hatte, deutliche Nachbesserungen verlangte. Insbesondere in den Bereichen Außenpolitik und Wirtschaftspolitik müsse das Programm "realitätstauglicher" formuliert werden.

Damit sind in der grünen Partei jene alten Gräben wieder aufgebrochen, die seit dem DDR-Anschluß und erst recht seit der Vereinigung mit dem ostdeutschen Bündnis 90 der Vergangenheit anzugehören schienen: Der Streit zwischen Realos, die in die Mitte der Parteienlandschaft streben und Fundis, die darauf bestehen, daß die Grünen inhaltlich dem Anspruch einer Alternativpartei gerecht werden. Doch anders als in der ersten Realo-Fundi-Auseinandersetzung der achtziger Jahre geht es mittlerweile längst nicht mehr um die Frage der Regierungsbeteiligung oder um das Verhältnis zum kapitalistischen Staat. Mitregieren wollen mittlerweile alle, und die paar Antikapitalisten, die es noch zu Beginn der Ära Kohl bei den Grünen gab, sind mittlerweile assimiliert, wenn sie es nicht vorgezogen haben, zur PDS zu wechseln oder als freie Radikale die Grünen von links kritisieren.

Mittlerweile verlaufen die Fronten innerhalb der Grünen etwas anders: Der eine Teil der führenden Parteipolitiker besitzt in der Regel ein Mandat, ist fest mit dem bundesdeutschen Parteienstaat verwachsen und legt dessen Maßstäbe an die eigene Partei an. Der andere Teil steht mit der Parteibasis in Kontakt und mißt die bundesdeutsche Wirklichkeit mit deren Maßstäben. Weil auch das grüne Wahlvolk längst keine sehr radikalen Forderungen mehr vertritt, ist man nun einige Jahre lang recht gut miteinander ausgekommen. In der jetzigen Auseinandersetzung geht es jedoch in modifizierter Form wieder um die alte Frage: Sollen die Grünen ihr Programm auf größtmögliche Akzeptanz für die Sozialdemokraten hinfrisieren oder sollen auch Forderungen enthalten sein, die für die SPD schwer zu schlucken sein werden? Soll man im Extremfall riskieren, daß künftige Koalitionsverhandlungen mit der SPD scheitern?

Der Programmentwurf für die Bundestagswahl entspringt einem Diskussionsprozeß, in dem die Bundestagsfraktion - traditionell die Bastion des rechten Parteiflügels - nur beratende Stimme hatte. Die Angriffe von Fischer und Co. richten sich daher gegen "Klassenkampfparolen", gegen eine "Neiddiskussion", wie die finanzpolitische Sprecherin Christine Scheel formulierte. Ihr geht es, wie die den Grünen nahestehende taz formulierte, um "den gesellschaftlichen Konsens sowie die Zuversicht, die Investoren und Konsumenten benötigen". Nicht, daß es dem Programmentwurf ausgerechnet daran mangeln würde. Er wendet sich zwar ausdrücklich gegen Monopolstrukturen im Bereich von Banken und Energierkonzernen, betont aber auch - in seltener Eintracht mit Gerhard Schröders SPD-Leitantrag - das Ziel, "kleine und mittlere Unternehmen zu stärken". Aber Christine Scheel geht noch einen Schritt weiter als Schröder: Man könne nicht pauschal feststellen, die großen Unternehmen sind die Bösen und die kleinen die Guten, sagte sie der taz. Fragt sich nur, ob sie gleich schlecht oder gleich gut sind. Das ist bei den Grünen noch nicht ausdiskutiert.

Auch im Bereich der Außenpolitik rächt es sich nun, daß die Kämpfe der Vergangenheit aus pragmatischen Erwägungen beendet wurden, ohne daß es zu einer Einigung gekommen wäre. Nach wie vor gibt es keine parteiübergreifende Position zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zu deren künftiger Größe (über eine Bundesrepublik ohne Armee redet man schon langen nicht mehr); in so zentralen Fragen wie der Ost-Ausdehnung der Nato sind die Grünen gespalten. "Die Linke im Bundesvorstand", formulierte Fischer für die FAZ, habe die Schwierigkeit, der Parteilinken "Wahrheiten in der Außen- und Sicherheitspolitik" zu vermitteln. Will heißen: Irgendwann muß auch die Linke weich werden.

Noch präsentiert der Programmentwurf allerdings die Positionen des linken Parteiflügels um Ludger Volmer, Claudia Roth und Jürgen Trittin. Die kommenden sechs Monate sollen nun der Diskussion gehören. Wahrscheinlicher ist allerdings, daß daraus ein Dauerstreit wird, an dessen Ende die Grünen kaum ein einheitlicheres Bild bieten werden als zum Zeitpunkt des "Ersten Entwurfs".