Giftige Geheimnisse

Bis 1978 unterhielt der französische Staat in Algerien ein Testgelände für biologische und chemische Waffen

Ein jahrzehntelang sorgsam gehütetes Geheimnis des postkolonialen französischen Imperialismus ist in der letzten Oktoberwoche durch Presseberichte gelüftet worden. Jederman weiß, daß Algerien in einem blutigen Unabhängigkeitskampf zwischen 1954 und 1962, der über eine Million Tote auf algerischer Seite und rund 30 000 französische Soldatenleben kostete, die französische Herrschaft abschüttelte. Ebenso ist bekannt, daß die algerische Unabhängigkeitsbewegung (und spätere Staatspartei) FLN und die französische Regierung im Laufe des Jahres 1961 sowie Anfang 1962 eine Reihe von Verhandlungen in Evian am Genfer See führten. Deren Ergebnisse wurden im März 1962 in Frankreich am Genfer See abgesegnet; im Juli wurde dann auf Grundlage der Abkommen von Evian die algerische Eigenstaatlichkeit ausgerufen. Bekanntlich setzte sich in der Regierung des Generals de Gaulle - der im Mai/Juni 1958 über eine Meuterei der unzufriedenen Militärs und der kolonialen Siedlerbevölkerung in Algerien an die Macht gekommen war - im Laufe weniger Jahre die Einsicht durch, daß es unrealistisch war, die französische Präsenz in Algerien um jeden Preis aufrecht erhalten zu wollen, wie die rechtsextremen Hardliner es bis zuletzt durchzusetzen suchten. Im Verborgenen blieb unterdessen die von den französischen Unterhändlern in Evian vereinbarte Gegenleistung dafür, daß Staatschef de Gaulle die Unabhängigkeit Algeriens akzeptierte, die allerdings sowieso kaum mehr aufzuhalten war.

Wie als erstes Presseorgan die Wochenzeitschrift Le Nouvel Observateur in seiner Ausgabe vom 23. Oktober berichtete, unterhielt Paris im Nordwesten Algeriens unweit der algerischen Grenze noch bis ins Jahr 1978 ein militärisches Testgelände, auf dem chemische und bakteriologische Massenvernichtungswaffen erprobt wurden. 1935 hatte die Testserie begonnen, damals noch mit dem Hintergedanken, eine mögliche Bedrohung durch Nazideutschland zu kontern. Zum Einsatz kamen die entwickelten Waffen jedoch nicht, da der deutsche Überfall auf Frankreich 1940 den Charakter eines Bewegungskrieges annahm und nicht eines Stellungskrieges wie in den Schützengräben 1916/17, als die deutsche Seite Giftgas einsetzte. Dies verbot 1940 beiden Seiten den Einsatz der Kampfgaswaffen. Im übrigen sahen Teile der französischen Armeeführung zur gleichen Zeit ohnehin die bürgerliche Demokratie als nicht verteidigungswürdig gegenüber den faschistischen Achsenmächten an.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die B- und C-Waffenversuche fortgesetzt. Mit Eintritt der algerischen Unabhängigkeit wollten die französischen Militärs ihre Basis in der nordafrikanischen Wüste nicht aufgeben. Testorte in der Metropole kamen wegen der Besiedlungsdichte nicht in Betracht. Die Nähe der Stadt Beni Wenif zum nordafrikanischen Testgelände schien die Militärs hingegen nicht übermäßig zu beunruhigen. Die Frage, ob es jemals zu Unfällen mit den dort erprobten Kampfstoffen kam, lassen die Autoren des Nouvel Observateur-Artikels jedenfalls offen, da sie keine befriedigende Antwort erhalten konnten.

Neben dem B- und C-Waffentestgelände hat der französische Staat 1962 auch vier Basen für Atomwaffenversuche in der algerischen Sahara behalten: in Reggane, In-Ekker, Colomb-Béchar und Hammaguir. Diese Gelände, deren Existenz bekannt war, wurden 1967 geräumt. Die Nuklearversuche konnten mittlerweile auf dem Mururoa-Atoll im französisch beherrschten Südpazifik stattfinden, die Raketentests wurden auf die Raumfahrtbasis in Kourou/Französisch-Guyana verlagert. Die militärische Ausrüstung der Atomtestbasen wurde der algerischen Armee "billig" überlassen - für 21 Millionen Franc statt des geschätzten Wertes von 50 Millionen. Im Gegenzug konnten sie die Chemiewaffenbasis behalten, die in den militärischen Dokumenten unter dem Codenamen "B2-Namous" geführt wurde.

Warum aber ließ sich Algerien auf diesen politisch brisanten Deal ein, während das damals von einer "antiimperialistisch"-nationalistischen Bewegung regierte Land außenpolitisch mit der Sowjetunion verbündet war? Der damalige französische Botschafter in Algier, Pierre de Leusse, erklärte gegenüber dem Nouvel Observateur, ein Grund bestehe darin, daß "sich mit dem algerischen Präsidenten Houari Boumedienne und Frankreichs General de Gaulle zwei Militärs als Staatschefs gegenüberstanden" und Boumedienne seinem Gegenüber aufgrund der Soldatenehre seinen Wunsch nicht abschlagen wollte. Jedenfalls wurde der Vertrag über "B2-Namous" um fünf Jahre verlängert.

Als 1972 eine erneute Verlängerung, abermals um fünf Jahre, ausgehandelt wurde, zeigte sich die algerische Seite schon etwas anspruchsvoller: Die französischen Soldaten mußten nun unter ziviler Tarnung - als Mitarbeiter der Firma Thomson - ihrem Handwerk nachgehen, und algerische Experten sollten an den Testreihen beteiligt werden. Ersteres wurde zugestanden, den Algeriern wurden jedoch nur Versuchsergebnisse übermittelt, die die Franzosen zuvor gefiltert hatten. In der Folgezeit wurden einige algerische Chemiewaffenexperten an der auf diese Thematik spezialisierten Militärschule in Grenoble ausgebildet. Zudem erhielt Algerien einen günstigen Zehn-Jahres-Kredit, während Frankreich das Recht behielt, mit Militärflugzeugen algerisches Territorium in Richtung des südlicheren Afrika zu überfliegen.

Im Jahr 1978 wurde die Basis "B2-Namous" geschlossen. Nicht bekannt ist, ob das Gelände noch heute mit Kampfstoffen verseucht ist. Ebensowenig ist bekannt, ob eine Entseuchung durch die langjährigen "Gäste" stattgefunden hat.