Keine Ravioli in Rebibbia

Italiens Zweite Republik muß sich mit der Vergangenheit der Ersten herumschlagen. Die ehemaligen Lotta Continua-Angehörigen Sofri, Pietrostefani und Bompressi befinden sich im Hungerstreik

"Freiheit für Adriano Sofri, Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi" war am Samstag letzter Woche die zentrale Forderung, unter der das Komitee "Liberi Liberi" zu einem Aktionstag nach Rom geladen hatte. Die Solidarität galt nicht Sofri und Co., sondern allen zur Zeit hungerstreikenden Gefangenen.

Die ehemaligen Lotta-Continua-Aktivisten Sofri, Pietrostefani und Bompressi, Anfang des Jahres wegen eines 25 Jahre zurückliegenden Mordes an einem Polizeikommissar zu je 22 Jahren Gefängnis verurteilt, waren am Montag der gleichen Woche im Gefängnis von Pisa in einen "totalen Hungerstreik" getreten. Sie wollen solange die Nahrungsaufnahme verweigern, bis die italienische Justiz sich zu einer Wiederaufnahme ihres Verfahrens bereit erklärt. Am Mittwoch waren im Knast von Rebibbia in Rom etwa 1 000 Gefangene diesem Beispiel gefolgt. In einem Schreiben begründeten sie ihren Hungerstreik mit "einem Ausnahmezustand, wie man ihn hier im Gefängnis erlebt". Einen weiteren Grund machte Il Manifesto mit den steigenden Häftlingszahlen aus. Die Haftanstalt von Rebibbia ist für 400 Gefangene konzipiert, aber mit 1 000 Häftlingen vollgestopft. Auch in Secondigliano und San Vittore verweigern Gefangene seit Mittwoch jegliche Nahrung.

Bereits vor Beginn des Hungerstreiks waren 160 000 Unterschriften für die Freilassung von Sofri und Co. gesammelt worden. Appelle und Petitionen an Italiens Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro - in denen eine Amnestie der ehemaligen Lotta-Continua-Aktivisten gefordert wird - kursieren schon seit Wochen, genauso wie Solidaritätsadressen von Künstlern, Politikern und Intellektuellen. Dario Fo, diesjähriger Nobelpreisträger für Literatur, will einen Teil seines Preisgeldes für Aktionen zur Freilassung der Gefangenen spenden, er bezeichnet das Urteil als "faschistisch". Rossana Rossanda schrieb in einem offenen Brief an Staatspräsident Scalfaro: "Ich fordere Gnade, und ich bin nicht die einzige, für die drei Personen, die dies nicht tun können, ohne eine Schuld einzuräumen für etwas, was sie nicht getan haben." Selbst der als Hardliner geltende ehemalige Staatspräsident Francesco Cossiga tritt für eine Haftverschonung ein. In Il Manifesto vom vergangenen Samstag plazierten auch noch Bündnis 90/Die Grünen eine Solidaritätsadresse, die unter anderen von Daniel Cohn-Bendit und Joseph Fischer unterzeichnet ist.

Daß in den meisten Petitionen eine Begnadigung gefordert wird, paßt den ehemaligen Lotta-Continua-Aktivisten nicht. Ein Gnadenerlaß von Präsident Scalfaro würde juristisch ihre Schuld bestätigen - eine Wiederaufnahme des Verfahrens wäre unmöglich. Doch genau daran arbeitet zur Zeit Sandro Gamberini, der Anwalt von Sofri, Pietrostefani und Bompressi. Ein Antrag auf Revision soll im November eingereicht werden. Daß das Verfahren neu aufgerollt wird, ist jedoch unwahrscheinlich: Alle bisherigen Revisionsbemühungen wurden von der italienischen Justiz mit dem Verweis, es hätten sich keine "neuen Erkenntnisse" über die Täter und den Tatablauf ergeben, abgelehnt.

Nach insgesamt sieben Instanzen waren Sofri, Pietrostefani und Bompressi im Februar 1997 vom Kassationshof in Pisa letztinstanzlich verurteilt worden. Laut Gerichtsurteil sollen sie im Mai 1972 den Polizeikommissar Luigi Calabresi ermordet haben. Alle drei waren zu dieser Zeit Mitglieder der Leitungsebene von Lotta Continua, einer (bis Mitte der siebziger Jahre) starken linksradikalen Organisation Italiens. Sofri und Pietrostefani sollen, so der Urteilsspruch, Auftraggeber des Mordes gewesen sein, Bompressi habe geschossen. Hauptbeweis und somit Grundlage der Verurteilung: Die Geständnisse des "reuigen" Kronzeugen Leonardo Marino, eines weiteren ehemaligen Aktivisten von Lotta Continua. Dieser hatte ausgesagt, Sofri habe ihm am 13. Mai 1972 im Anschluß an eine Kundgebung in Pisa den Auftrag gegeben, Calabresi in Mailand umzubringen. Er selbst habe dann vier Tage später das Tatfahrzeug gesteuert, aus dem heraus Bompressi Calabresi erschossen habe.

Daß Marinos Aussage von 1988 ein dreiwöchiges Verhör durch die Polizei vorausging, von dem die Polizei vor Gericht nichts mehr wissen wollte, interessierte den Kassationshof genausowenig wie die anderen, bis heute ungeklärten Widersprüche. Mehrere Augenzeugen der Tat bestätigten vor Gericht, daß eine Frau das Fahrzeug gelenkt habe. Marino gab sowohl einen falschen Fluchtweg als auch die falsche Wagenfarbe an. Auch waren eigenartigerweise fast alle Beweisstücke der Polizei mittlerweile nicht mehr auffindbar - sowohl die Kleidung, die Calabresi am Tage seiner Ermordung trug, als auch der von den Tätern benutzte blaue Fiat 125 und sogar die Kugel, die Calabresi traf. Das Gericht wertete das Fehlen eines Bekennerschreibens als Indiz gegen die Angeklagten, ebenso die seinerzeitige Erklärung von Lotta Continua zum Tode Calabresis. Die Organisation hatte erklärt, politischer Mord sei kein Instrument sozialer Befreiung, jedoch könne man keine Tat bedauern, in der "die Ausgebeuteten ihr Verlangen nach Gerechtigkeit" erfüllt sähen.

Luigi Calabresi hatte zuvor im Zusammenhang mit dem Bombenattentat auf der Piazza Fontana von 1969 ein Verhör geleitet, bei dem der Vernommene, Giuseppe Pinelli, aus dem Fenster stürzte. Nachdem Pinellis Tod von der italienischen Justiz als ein Fall "aktiven Unwohlseins" zu den Akten gelegt wurde, forderte Lotta Continua eine Wiederaufnahme der Ermittlungen und beschuldigte Calabresi, Pinelli "selbstermordet" zu haben.

Die Vorgeschichte: Auf dem Höhepunkt einer ausgedehnten wilden Streikwelle explodierte am 12. Dezember 1969 in der Mailänder Landwirtschaftsbank auf der Piazza Fontana eine Bombe, die 16 Menschen tötete. Die Polizei verdächtigte umgehend Mailänder Anarchisten, darunter Pinelli. Vor Gericht stellte sich später heraus, daß der Anschlag von Neofaschisten begangen und vom italienischen Geheimdienst gedeckt wurde - als Auftakt der "Strategie der Spannung" des italienischen Staates. Dieser wollte mit dem Mailänder Staatsmassaker zum einen Italiens linksradikale Kreise für den Anschlag verantwortlich machen, ein Richtungswechsel der öffentlichen Meinung nach rechts sollte herbeigeführt werden. Gerüchte über einen bevorstehenden Staatsstreich von rechts sollten auf der anderen, der linken Seite, dazu führen, daß sich die wilde Streikbewegung den links-legalistischen Organisationen (Sozialistische und Kommunistische Partei, linke Gewerkschaften) unterordnet. Nur gemeinsam sei der drohende faschistische Putsch zu verhindern, Linksabweichler würden nur den Faschisten zuarbeiten.

Das Kassationsgericht in Pisa nahm zur Urteilsbegründung die Beschuldigungen von Lotta Continua gegen Calabresi wieder auf. Die Aussage eines weiteren "Reuigen" wurde hinzugezogen, damit alles paßte: Marco Pisetta hatte schon früher behauptet, Lotta Continua habe durch verschiedene Attentate einen Staatsumsturz geplant. Beweise dafür lieferte er nicht. Für eine Verurteilung zu je 22 Jahren Haft reichte das jedoch aus, galt es doch, nach dem politischen Übergang zur Zweiten Republik nun auch juristisch die Staatsgeheimnisse der Ersten Republik endlich zu begraben.

Doch die Leichen im Keller des italienischen Staates geraten nicht so leicht in Vergessenheit: Seit Anfang vergangener Woche ermittelt die Staatsanwaltschaft Rom gegen Giulio Andreotti (früher Democrazia Christiana (DC)), der zwischen 1972 und 1992 insgesamt siebenmal Ministerpräsident Italiens war. Im Zusammenhang mit der Entführung und Ermordung Aldo Moros wird er verdächtigt, Dokumente unterschlagen zu haben. Es geht um eine Art "Anti-Terrorismusplan" (PATERS) der Regierung in den siebziger Jahren gegen die italienische Linke. Nach Recherchen der Nachrichtenagentur ADN Kronos soll der PATERS-Plan Ende März 1978 vom damaligen Innenminister Francesco Cossiga (DC) - der damalige Parteisekretär der DC, Aldo Moro, war zu diesem Zeitpunkt seit zehn Tagen Gefangener der Brigate Rosse (BR) - an Regierungschef Andreotti geschickt worden sein. Nach dem Tode Moros soll Andreotti die Vernichtung der Akten in Auftrag gegeben haben.

"Ich habe niemals einen Plan PATERS gesehen noch davon Kenntnis gehabt", dementierte Andreotti diese Beschuldigung Anfang der vergangenen Woche. Ebenso Cossiga: "PATERS hat nichts mit dem Fall Moro zu tun und ist kein Plan für Staatsterrorismus, wie manche gehofft haben", bestätigte er zumindest die Existenz des Plans. Wozu auch leugnen. Ein Exemplar des Plans liegt dem Innenministerium vor und soll - auf Drängen der Justiz - demnächst veröffentlich werden. Die nicht gerade neue Behauptung, DC-Parteisekretär Aldo Moro sei von der DC-Führung geopfert worden, erhält fast 20 Jahre nach der Entführung Moros wieder Aufwind: Moro habe wegen seines damaligen Wunsches, die Kommunisten - über den von ihnen angestrebten "historischer Kompromiß" in die Regierung mit einzubeziehen - den Rückhalt in der DC verloren. Die Aktion der BR sei da gerade recht gekommen. Auch ein angeblich während der BR-Entführung von Moro geschriebenes Dossier soll Andreotti belasten, mit dem Mafia-Bankier Sindona zusammengearbeitet zu haben.

Die Ermittlungen gegen Andreotti werden auch von der parlamentarischen Linken Italiens mit Spannung verfolgt, gilt es doch, alte Mythen zu bekräftigen. Giovanni Pellegrino (PDS) vermutete in der vergangen Woche auch umgehend, PATERS könne die Namen von Agenten beinhalten, die im Auftrag der Regierung damals in die BR eingeschleust worden seien. Somit wäre dann nicht nur eine Verstrickung der Regierungspartei DC in die Ermordung Moros nachgewiesen. Auch die Lieblingsthese der italienischen Sozialisten und Kommunisten, die BR habe über lange Zeit einer Fernsteuerung durch staatliche Dienste unterlegen, wäre damit in ihren Augen bestätigt.