Neoliberale Kirchweih

Gefährliche Orte IX: Erstes Haus am Potsdamer Platz fertig. debis schenkt der Stadt einen Kongreß

Bei den Daimler-Benz InterServices weiß man, was Servicebereitschaft heißt. Auf die Frage, ob es möglich sei, das Material zum debis-Dienstleistungskongreß vor 17 Uhr in die Redaktion zu faxen, kommt wie aus der Pistole geschossen ein motiviertes: "Ich mache das möglich!" Daß die Anfangszeit der Veranstaltung auf dem pünktlich eintreffenden Schreiben fehlte, veranschaulicht eindringlich das Problem, dem der Kongreß sein Augenmerk widmen will: Deutschland ist ein Entwicklungsland, dienstleistungsmäßig.

"Mit Dienstleistungen in die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts" lautet der Titel des Kongresses im Berliner Abgeordnetenhaus. Daran, wie diese auszusehen hat, läßt das Motto keinen Zweifel: "leisten + dienen = Dienstleistung". Den Auftakt machen, denn es geht um Zukunft, Jugendliche, die in einem Videoclip über ihre Pläne sprechen. "Ich denke, daß ich nach Südamerika ziehen und ganz schlicht leben werde", sagt einer.

Warum diese Idee besser ist, als sie auf den ersten Blick scheinen mag, erläutert Klaus Mangold, Vorstandsvorsitzender der debis AG, in seinem Einleitungsbeitrag. Die Maßnahmen, die sich aus dem "tiefgreifenden Strukturwandel" zur Dienstleistungsgesellschaft ergäben, umfaßten unter anderem "veränderte Formen der Arbeit", soll heißen: unge-sicherte und befristete Beschäftigung sowie Bezahlung nach "Leistungspaketen" statt nach Arbeitszeit. Doch auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene sieht Mangold Handlungsbedarf. "Umfangreiche weitere Privatisierungen und Deregulierungen" seien geboten, ebenso die "Reform der Steuer- und Sozialversicherungssysteme" und stärkere Orientierung an den USA.

Auch der fünfzigminütige Auftritt des Kanzlers mutet den Zuhörern keine Überraschungen zu. Was an Kohl allerdings stets aufs neue verwundert, ist die ehrlich scheinende Überzeugung, mit der er Sätze vorträgt wie: "Was immer Sie aus dem Jammertal Deutschland hören - die Wirklichkeit ist ganz anders. Wir haben eine beachtliche wirtschaftliche Stabilität und ein gutes soziales Klima." Das Hauptproblem sei nicht materieller Art, sondern bestehe in der Fähigkeit zum Umdenken. Auf dem Planeten Kohl geht es darum, die Ärmel hochzukrempeln und in die Hände zu spucken. "Wir müssen den jungen Leuten sagen: 'Pack es an!'"

Doch leider machen nicht alle mit, das Mentalitätsproblem manifestiert sich überall: 50 Prozent Single-Haushalte bei den Berlinern "im heiratsfähigen Alter"; "Slalomfahrer", die Sozialmißbrauch betreiben; ein verbreitetes "Sicherheitsdenken", das 40 Prozent der Universitätsabsolventen in den öffentlichen Dienst treibt. Sie sollten lieber Firmen gründen und Arbeitsplätze schaffen - wenn sie mit dem Studium überhaupt einmal fertig werden. "Durchschnittlich 29 oder 30 Jahre" sei der Abgänger alt, weiß der Kanzler, der selbst schon mit 28 ins wirkliche Leben trat. Fünf Millionen neue Arbeitsplätze würden entstehen, wenn in Deutschland die gleiche Dienstleistungsdichte erreicht werde wie in den USA. "Es hat keinen Sinn, über Schuldzumessungen zu reden", mahnt Kohl. Als ob er das heute zu befürchten hätte.

Bill Gates stellt den Zuschauer in seiner überlebensgroßen Virtualität wie gewohnt vor die Frage, ob der Microsoft-Boß tatsächlich existiert oder vielleicht doch der große Bruder von Lara Croft ist. Kern seines visionären Beitrages: "Alle Menschen werden durch e-mail miteinander verbunden sein."

In der Bundesrepublik liege der Anteil der industriellen Produktion, wie Daimler-Chef Jürgen Schrempp vorrechnet, bei zehn bis 25 Prozent, Tendenz fallend. Über die Konsequenzen für den einzelnen herrscht bei den Rednern allerdings Uneinigkeit. Während Schrempp der Meinung ist, daß "Dienen positiv besetzt werden" sollte, vertritt Kohl die Ansicht, daß vor allem Tugenden wie "Zuverlässigkeit, Einsatzbereitschaft, Fleiß und Pünktlichkeit" unverzichtbar seien. Ganz anderer Auffassung ist Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft: "Der erwerbswirtschaftlich handelnde Mensch muß sich immer und überall den Bedingungen und Bedürfnissen derer anpassen, die seine Leistungen nachfragen." "Flexibilität im Arbeitsleben wird zum obersten Gebot", wendet dagegen Klaus Mangold ein.

Die Ursachen des von den Referenten unablässig beklagte Rückstandes im tertiären Sektor gegenüber den USA benennt Richard Cooper. Es gebe in den Vereinigten Staaten nur wenige Beschränkungen hinsichtlich Arbeitszeit und Kündigung, aktive Beschäftigungsprogramme existierten nicht und die Arbeitslosenunterstützung werde nicht länger als 26 Wochen gewährt. Nur zehn Prozent der Arbeitslosen seien daher über ein Jahr ohne Job und die Arbeitskräfte "relativ mobil". Als Erklärung, wie die Arbeitslosigkeit trotz dieser hervorragenden Bedingungen in den letzten Jahren zunehmen konnte, nennt der Professor für internationale Wirtschaft nur ein Stichwort: "Feminism."

Nach der Mittagspause kommt noch etwas fürs Herz. Dominique Schnapper, Präsidentin der Société Fran ç aise de Sociologie, darf sagen, daß es in der politischen Verantwortung liege, die schlimmsten Folgen des Strukturwandels für die "geopferte Generation" zu mildern. DGB-Chef Dieter Schulte warnt vor dem Verschwinden des Normalarbeitsverhältnisses zugunsten ungesicherter Beschäftigung. Das übliche "Wir-reden-über-alles" formuliert er entsprechend den Vorgaben des Kongresses: "Die Gewerkschaften wollen ihre Kompetenz als 'Dienstleistung' einbringen."

Die Dramaturgie ist nicht nur deshalb gelungen, weil der überwiegende Teil der Journalisten zu diesem Zeitpunkt bereits das Weite gesucht hat und die verbliebenen Wirtschaftsgrößen mit vollem Magen das Sozialgeheule vermutlich leichter ertragen können. Nach all den Yuppie-Visionen, in denen auf dem Datenhighway in die goldenen Zukunft der deregulierten Gesellschaft gesurft wurde, wirkt Schulte wie die Fleischwerdung all jener "Barrieren", von denen zuvor die Rede war.

Der Anlaß für diesen Kongreß ist weniger der Bedarf an Ideologiebildung im neoliberalen Lager, sondern läßt sich einige hundert Meter nordwestlich des Veranstaltungsortes finden. Hier steht ein "solides Scharnier zwischen Ost und West" (Mangold), ein "Sinnbild dynamischer Zukunftsperspektiven" (Kohl), "eine Hochburg der Industrie, des Kapitals und der Spitzentechnologie" (Konr‡d), "ein Mekka der Architektur und der Stadtgestaltung" (Gentz), ja ein "Zeichen des Vertrauens in die Hauptstadt und in die Nation" (Diepgen) gar, kurz, die debis-Zentrale. Auf deren Eröffnung am nächsten Tag wollte man auch jene aufmerksam machen, die der PR-Arbeit der Bauherren ansonsten entkommen wären. Das dürften nicht viele sein: Jeder zweite Tourist besuchte die - man kann es kaum mehr hören - "größte Baustelle Europas", worin man auch einen Hinweis auf die beschränkten Möglichkeiten sehen kann, in Berlin die Zeit totzuschlagen.

Die Ziele des Kongresses waren bei dem Bau der Gebäude zum Teil schon Wirklichkeit. Der Senat überließ der Daimler-Benz AG die 68 000 Quadratmeter Bauland zum Discountpreis. Polnische Bauarbeiter dienten und leisteten hier für zukunftsweisende sechs Mark pro Stunde, ohne allerdings verhindern zu können, daß der Preis für die 340 000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche von den ursprünglich projektierten 2,7 auf vier Milliarden Mark anwuchs.

Es gibt schonungslosere Wege, einen solchen Betrag in einer Konzernzentrale zu verbauen, von der aus Befehle in 29 Länder geschickt werden. Das debis-Haus ist ein freundlicher Mittelweg. Zwar läßt der ockerfarbene Bau keinen Zweifel, wer das Sagen hat, weckt im Betrachter aber nicht die Vermutung, daß im Penthouse im 21. Stock Darth Vader persönlich residiert. Das Bauwerk ist tatsächlich, wie vom Architekten Renzo Piano vorgesehen, ungewöhnlich offen, der Turm bietet Einblicke wie ein Puppenhaus. Auf der Westseite jedenfalls - die fensterlose Rückseite dagegen gemahnt, sieht man von der organischen Unregelmäßigkeit der Terrakotta-Fassade ab, an einen Bunker.

Ein Jahr nach dem denkwürdigen "Ballett der Kräne" anläßlich des Richtfestes, bei dem der Dirigent Daniel Barenboim den Hampelmann machte, wird die Eröffnung maßvoller begangen. Außer der Luftnummer einer Tänzerin mit Drahtseilen an den Hüften ersparen die Veranstalter den 1 000 Gästen Spektakuläres, denn das 33 Meter hohe und 83 Meter lange Atrium soll für sich sprechen. Ansonsten: Stolzes vom Konzernherrn Mangold, Optimistisches von Bürgermeister Diepgen, Nachdenkliches vom Präsidenten der Akademie der Künste György Konr‡d, Zufriedenes von Renzo Piano und debis-grüne Drinks.

Eine Entwicklung des Atriums, wie von Piano gewünscht, zu einer allen zugängliche "Piazza" kann ausgeschlossen werden. Am Eingang müssen sich die Besucher an einem Empfangstisch melden, um einen Besuchsschein zu erhalten. Davon abgesehen, liegt der Platz unterm Glasdach fernab der wichtigen Punkte der Stadt. Auch der mietpreisbedingt lächerliche Wohnanteil der Bauten läßt nicht annehmen, daß hier Leben einkehren wird. Es sei denn, die, wie Akademiepräsident Konr‡d findet, "sensible Arbeit" mit dem Namen "Light Blue" von Fran ç ois Morellet, ein an den Wänden des Atriums aufgeklappter Kreis um den Platz, zöge das Volk in Massen an. Es wären die ersten blauen Neonröhren mit einer solchen Attraktivität.

Daß, zumindest was die debis-Zentrale betrifft, nun Ruhe am Potsdamer Platz einkehrt, ist nicht zu erwarten. Der Großteil der 19 Gebäude harrt noch der Fertigstellung, die für das nächste Jahr geplant ist. Darüber hinaus kündigte die debis AG einen "jährlichen Zukunftskongreß" bis ins Jahr 2000 an. Damit solle, droht der Konzern, ein "Beitrag zur künftigen Standortbestimmung der Stadt in Europa" geleistet werden.