In dubio contra reo

Weil das Lübecker Landgericht die Wahrheit über die Brandstiftung nicht fand, hat es sich nun eine eigene Version ausgedacht

Die "Wahrheit" hat drei Versionen. Mit der am 24. Oktober signierten schriftlichen Urlaubsbegründung hat das Lübecker Landgericht unter dem Vorsitz von Richter Rolf Wilcken die dritte Begründung vorgelegt, warum der Libanese Safwan Eid im Lübecker Brandprozeß freizusprechen war. Das Verblüffende: Die drei Freisprüche, mit denen Wilcken Safwan Eid vor dem Gefängnis bewahrte, ähneln einander nicht nur kaum, sie widersprechen sich sogar in ganz zentralen Punkten. Aus einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld wurde ein Urteil, das Zweifel daran säte, ob Safwan Eid nicht doch etwas mit der Brandstiftung zu tun haben könnte, die zehn Flüchtlinge das Leben kostete. In seiner schriftlichen Urteilsbegründung geht das Gericht jetzt gar erstmals davon aus, daß der Angeklagte mindestens Mitwisser war - wenn nicht sogar Tatbeteiligter.

Ein halbes Jahr vorher war Rolf Wilcken noch vom Gegenteil überzeugt. Am 23. April zieht der Richter überraschend ein eindeutiges Resümee der bis dahin 52 Verhandlungstage andauernden Beweisaufnahme: Selbst wenn man alle offenen Fragen "in dubio contra reo" - im Zweifel gegen den Angeklagten - bewerte, gebe es nichts, was Safwan Eid belaste, führt der Jurist aus. Die Frage, ob "unter dem Aspekt der Entlastung des Angeklagten" die Grevesmühlener Jugendlichen noch geladen werden sollten, die in der Brandnacht mehrfach in der Nähe des Tatorts gesichtet wurden, beantwortet Wilcken mit den Kernsatz seiner juristischen Zwischenbilanz: "Entlastung setzt eine hinreichende Belastung von Safwan Eid voraus, die wir nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht haben." Daß Safwan Eid freigesprochen werden wird, ist an diesem 23. April so gut wie amtlich.

Obwohl sich an diesem Stand der Dinge nichts geändert hat, begründet der Richter am 30. Juni den tatsächlichen Freispruch ganz anders - mit dem Prinzip "im Zweifel für den Angeklagten". Plötzlich spricht Wilcken selber von Entlastendem und Belastendem für und gegen Eid, von Indizien, die für eine Verurteilung nicht ausreichen würden. Besonders die für Wilcken "glaubwürdige" Zeugenaussage des Rettungssanitäters Jens L., dem Eid kurz nach dem Brand mit den Worten "wir warn's" seine Tatbeteiligung gestanden haben soll, stellt er in den Mittelpunkt seiner Urteilsbegründung. Weil der Tathergang, den Safwan Eid Jens L. beschrieben haben soll, nicht mit dem vom Gericht rekonstruierten Brandverlauf übereinstimmt, räumt Wilcken ein, daß der Sanitäter den Angeklagten "möglicherweise falsch verstanden" haben könnte. Von einem Mißverständnis ist in der schriftlichen Urteilsbegründung nun keine Rede mehr.

Ohne neue Fakten zu benennen, geht das Landgericht davon aus, daß die Aussage von Jens L. "ein Indiz für die Tatbeteiligung des Angeklagten" sei, daß sie aber nur "einen - wenn auch schwerwiegenden - Verdacht gegen den Angeklagten" begründe. Vom Wahrheitsgehalt der Aussage des Sanitäters ausgehend, spielt das Gericht unter der Prämisse "im Zweifel für den Angeklagten" nun mehrere Varianten der direkten und indirekten Tatbeteiligung durch. "Die Äußerung 'wir warn's' besagt nichts über die Art der Teilnahme", heißt es in der Urteilsbegründung - Safwan Eid könne die Brandlegung selbst ausgeführt, andere dazu angestiftet oder schlicht Beihilfe geleistet haben. Zwar sei "ein Verdacht in diesem Sinne gegen den Angeklagten weiterhin gegeben", streut der Gerichtsbeschluß noch einmal massive Zweifel an der Unschuld Eids, doch auch eine andere Variante sei denkbar: Mit "wir" könne der Angeklagte auch die Hausbewohner und -bewohnerinnen gemeint haben, ohne selber an der Brandstiftung beteiligt gewesen zu sein. Sollte er erst nach der Brandstiftung von den Tatumständen erfahren haben, so könne er nicht der Strafvereitelung überführt werden, da "sein Informant ein Familienangehöriger gewesen sein" könnte, den Safwan Eid nicht zu belasten brauche.

Im Klartext bedeutet das: Der Angeklagte, gegen den es nach Wilckens Auffassung im April selbst dann noch "keine hinreichende Belastung" gab, wenn man alle offenen Fragen gegen ihn wendete, wird in der schriftlichen Urteilsbegründung zum Mitwisser gestempelt, der auch Tatbeteiligter sein könnte.

Auch wenn die neue Freispruchsinterpretation für Safwan Eid keine konkreten Konsequenzen hat und in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, so hat sie doch weitreichende Konsequenzen: Das Urteil legt nahe, daß die Täter zumindest aus der Umgebung des Angeklagten kamen; daß hier Flüchtlinge ihre eigene Unterkunft in Schutt und Asche gelegt haben und Safwan Eid die wahren Täter zumindest kennt. Das bedeuet: Die vielfach kritisierte Staatsanwaltschaft hat zumindest in die richtige Richtung ermittelt und die ebenfalls tatverdächtigen Grevesmühlener Jugendlichen sind - mehr als der Angeklagte - von den gegen sie erhobenen Vorwürfen freigesprochen. Auch hier verliert die schriftliche Urteilsbegründung - anders als die mündliche und das davor erfolgte Zwischenresümee - deutliche Worte: Die "Möglichkeit des gewaltsamen Eindringens von Personen von außen", befindet das Gericht an einer Stelle, sei ausgeräumt worden, sei - so heißt es anderenorts - eine "nicht ernstlich in Betracht zu ziehende Denkmöglichkeit". Die Botschaft lautet: Deutsche Neonazis haben hier keinesfalls gezündelt, es waren Flüchtlinge, die ihre MitbewohnerInnen und eventuell sich selber verbrannt haben.

Mit dieser juristischen Analyse ist nicht nur das nationale Weltbild wieder zurechtgerückt. Eine Neuauflage der Ermittlungen gegen die Grevesmühler ist so gut wie unmöglich geworden. Hatten die AnwältInnen der Nebenkläger und des Angeklagten es sich bislang offen gehalten, neue Ermittlungen zu fordern, gar eine Klage gegen die Grevesmühlener zu erzwingen oder die Staatsanwaltschaft wegen Strafvereitelung im Amt anzuzeigen, können die Ermittler nun ihre einseitigen Recherchen auf die Urteilsbegründung stützen. "Der Vorwurf, die Anklage habe auf wackeligen Beinen gestanden, ist jetzt entkräftet", frohlockte Staatsanwalt Michael Böckenhauer nach dem Urteil. Er frohlockte zu Recht.

Denn in der 53seitigen Urteilsbegründung findet sich an keiner Stelle mehr eine kritische Würdigung der Ermittlungstätigkeit. Auch hier trägt der Gerichtsbeschluß eine andere (wessen?) Handschrift, als die insgesamt knapp gehaltene, an diesem Punkt aber präzise mündliche Urteilsbegründung Rolf Wilckens. Damals hatte der Richter betont, "daß die Ermittlungen nicht immer das Maß an zu fordernder Gründlichkeit erreicht haben und die Kammer auch darum vor Beweislücken gestanden hat". Der Satz hatte das schleswig-holsteinische Justizministerium veranlaßt, unmittelbar nach dem Prozeßabschluß anzukündigen, es werde prüfen, "ob es zu Ermittlungspannen" der Anklagebehörde "gekommen ist". Für diese Prüfung, die auf Grundlage der schriftlichen Urteilsbegründung vorgenommen werden sollte, gibt es jetzt keinen Stoff mehr - auch die Staatsanwälte werden in dem Beschluß von jeder Schuld freigesprochen.

Noch einen Satz hatte Wilcken den Ermittlern am 30. Juni ins Stammbuch geschrieben: Ihr Plädoyer bewertete er mit den Worten, es gehe "nicht an, einen möglichen Geschehensablauf auf der Basis einiger Zeugen zu rekonstruieren, andere Zeugenaussagen außer Betracht zu lassen, (...) und ganze Komplexe wie den Vorbauabbrand und Tod des Sylvio Amoussou zu negieren". Zudem kam der Richter zu dem Ergebnis, daß es im Haus "zwei Primärbrände gegeben hat", einen davon - wie von der Verteidigung vermutet - im hölzernen Vorbau des Flüchtlingsheimes.

Die offenen Fragen zum Tod Amoussous - der anders als die anderen Brandopfer im hölzernen Vorbau starb und keine für einen Brandtod typischen Rußpartikel in der Lunge aufwies - und die Frage, wer, wenn nicht von außen eingedrungene Fremde, den Brand im Vorbau legte, löst das Gericht nun selber mit einem kühnen Szenario: Als es im ersten Stock schon brannte, sei Amoussou möglicherweise "nach unten in den Vorbau" gegangen, um sich zu retten. Als der Flüchtling die Brandstelle passierte, könne unbemerkt "seine Bekleidung Feuer gefangen haben". Erst im Vorbau soll dann "das Feuer an Sylvio Amoussous Bekleidung (...) urplötzlich zu einer eine starke Hitze entwickelnden Stichflamme geworden sein, die Sylvio Amoussous Tod (...) herbeiführte" und auch noch den Vorbau in Brand setzte.

Warum Wilcken innerhalb eines halben Jahres ohne neue Fakten seine Bewertung der Rollen grundlegend veränderte, die Safwan Eid, den Grevesmühlenern und der Staatsanwaltschaft in dem Verfahren zukamen, wird vermutlich sein Geheimnis bleiben. Für die Angehörigen der Brandopfer bedeutet die Wende aber, daß nicht nur nie aufgeklärt werden wird, wer die Verantwortung für den Tod ihrer Familien trägt, sondern auch, daß sie fortan wieder verstärkt als Verdächtige, als mögliche Täter und Täterinnen gebrandmarkt werden dürfen. Die deutsche Seele hat wieder ihre Ruh.