Ein Urteil, das nichts entscheidet

Entschädigung für Zwangsarbeit: Die Entscheidung des Bonner Landgerichts verspricht keine schnelle Lösung

Für die einen ist es ein Erfolg, für die anderen ein Skandal. Das Urteil des Bonner Landgerichts zur Entschädigung für Zwangsarbeit löste in der deutschen Presse vor allem Verwirrung aus. Während die einen beklagen, daß von den einundzwanzig Klägerinnen zwanzig leer ausgehen, bejubeln die anderen, daß der ehemaligen Zwangsarbeiterin Rywka Merin 15 000 Mark zugestanden wurden.

Als 23 ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der Munitionsfirma Union in der Produktionsstätte Auschwitz 1992 die Klage einreichten, hofften sie noch auf eine schnelle Erfüllung ihrer Ansprüche. Mit der Wiedervereinigung und dem 2-plus-4-Vertrag, der keine Regelung zu Entschädigungsansprüchen trifft, war die Gültigkeit der bisherigen Verträge über die "Wiedergutmachung" in Frage gestellt. Vor allem das Londoner Schuldenabkommen, das die Reparationszahlungen an die von Deutschland im zweiten Weltkrieg okkupierten Länder regelte, stand zur Überprüfung an. Das Anfang der fünfziger Jahre geschlossene Abkommen hatte zu deutschen Gunsten festgelegt, daß keine weiteren Reparationen zu zahlen sind und mit den geleisteten Zahlungen an die betroffenen Staaten eine individuelle Entschädigung ausgeschlossen ist.

So ging es im Prozeß zunächst darum, ob das Londoner Schuldenabkommen weiterhin gilt, oder ob der 2-plus-4-Vertrag einen Friedensvertrag darstellt, auf dessen Grundlage die Entschädigungsfrage neu geregelt werden muß. Das Bonner Landgericht sah sich außer Stande, diese Frage zu entscheiden und legte sie dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG)vor. Praktische Auswirkungen hat die Frage vor allem für die Überlebenden in Osteuropa, die durch den Londoner Vertrag von individuelle Entschädigungsansprüchen ausgeschlossen waren. Überlebende in westlichen Ländern konnten Zahlungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) beantragen, wobei sie die Beweislast tragen, jeden "Schaden" nachweisen mußten und dieser dann einzeln bezahlt wurde. Internierung im Ghetto oder Gefangenschaft im Konzentrationslager wurde mit fünf Mark pro Tag entschädigt, entgangener Lohn, gesundheitliche Schäden, Berufsunfähigkeit und entgangene Schulbildung wurden mit einem Pauschalbetrag abgegolten.

Zwangsarbeit gehörte nicht zu den Schäden, die nach dem BEG geltend gemacht werden konnten. Obwohl sie und insbesondere die "Vernichtung durch Arbeit" in den Nürnberger Prozessen eindeutig unter die Hauptkriegsverbrechen gezählt worden waren, schonte man mit BEG und dem Londoner Abkommen vor allem die Konzerne. Aus einem einfachen Grund: Die nun im kalten Krieg entzweiten Alliierten wollten den Aufbau sowohl Westdeutschlands als auch der DDR nicht durch hohe Zahlungen gefährden - in den fünfziger Jahren lebten noch sehr viel mehr ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter als heute.

Während der zwei Jahre, die das Bundesverfassungsgericht brauchte, um zu einer Entscheidung zu kommen, starb der einzige Mann unter den Klageführenden. 1996 kam das BVerfG schließlich zu einem Urteil. Es öffnete den Klageweg für ehemalige Zwangsarbeiter und erklärte damit den Londoner Vertrag in diesem Punkt für ungültig. Damals war der Jubel groß, nur wenige Stimmen machten darauf aufmerksam, daß eine Klage Jahre in Anspruch nehmen kann - Zeit, die die Überlebenden nicht mehr haben. Zudem sind die mit den Verfahren verbundenen Kosten so hoch, daß sich vor allem Überlebende aus Osteuropa es sich gar nicht leisten können, vor Gericht zu gehen.

Das Bonner Landgericht, das sich nach dem Urteil des BVerfG wieder mit der Klage befassen mußte, ließ sich erneut Zeit. Eine weitere Klägerin starb im Frühjahr dieses Jahres. Das Urteil selbst schließt nun den Klageweg für jene Überlebenden aus, die schon Entschädigungszahlungen nach dem BEG erhalten haben. Diese Regelung mutet absurd an, ging es bei dem Prozeß doch um Zwangsarbeit, und diese wird im BEG gar nicht erwähnt. Das sah offenbar auch der Vorsitzende Richter Heinz Sonnenberger. Doch dem Gericht seien die Hände gebunden, die Politik sei gefragt. Denn: "Es gibt noch viele, die warten."

- Und die Zeit drängt, sollen erfolgreich eingeklagte Entschädigungszahlungen die Überlebende überhaupt noch erreichen.

Rywka Merin bekam als einzige eine Entschädigung zugesprochen, weil sie keine Möglichkeit hatte, Leistungen nach dem BEG zu beantragen. Sie lebte in Polen, bis sie nach Israel auswanderte. Alle anderen Klägerinnen, auch die verstorbenen, hatten Leistungen nach dem BEG bekommen, aber nicht für die Zwangsarbeit - doch das BEG schließt zusätzliche Zahlungen aus. So könnte eine Situation entstehen, in der Überlebende, die bisher keine Entschädigungszahlungen erhielten, nachträglich für ihre Zwangsarbeit bezahlt werden, während andere, die zum Beispiel für KZ-Haft entschädigt wurden, keine nachträgliche Entlohnung fordern können.

Positiv an dem Prozeß war vor allem, daß er überhaupt stattfand. Bisher hatten die Gerichte regelmäßig Klagen auf Entschädigung wegen Zwangsarbeit gar nicht angenommen. Das Bonner Urteil schafft allerdings in keinem Punkt der Entschädigungsfrage eine einfache und eindeutige Lösung. Damit kann die Bundesregierung mit ihrer Strategie fortfahren, die Ansprüche ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter solange zu verschleppen, bis die letzten Überlebenden gestorben sind. So bleibt auch offen, ob Frau Merin die 15 000 Mark tatsächlich bekommen wird - schon zu Beginn des Prozesses hatte das zuständige Bundesfinanzministerium angekündigt, bis in die letzte Instanz zu gehen. Damit ist weiterhin zu rechnen, obwohl Richter Heinz Sonnenberger in Bezug auf das BEG den Argumenten der Bundesregierung folgte.

Anläßlich des Urteils erneuerten die Grünen und eine Reihe von Interessenverbänden ehemaliger Zwangsarbeiter die Forderung nach einer Bundesstiftung für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit. In diese Stiftung sollen auch die Unternehmen einzahlen, die während des Nationalsozialismus Zwangsarbeiter beschäftigten. Als Entschädigungen schlagen sie pauschale Zahlungen vor, keine Renten. Dieses Modell orientiert sich an den Verträgen, die die Jewish Claims Conference bereits mit Siemens, IG Farben i.A. und weiteren Firmen geschlossen hatte. Selbst wenn eine solche Lösung zu einer schnellen Auszahlung von Entschädigungspauschalen führen sollte - auch sie hinterläßt einen bitteren Nachgeschmack, weil sie mit keinerlei Anerkennung des entstandenen Leids und der Ausbeutung durch die jeweiligen Firmen verbunden ist.

Die Firmen und Konzerne, die von der Zwangsarbeit von Millionen Menschen profitierten, lehnen nach wie vor jede Verantwortung für den Einsatz der Zwangsarbeiter ab. So wiederholte Siemens-Aufsichtsratsmitglied Peter von Siemens anläßlich des 150jährigen Firmenjubiläums die Behauptung, die Zwangsarbeiter seien dem Konzern von der SS "aufgezwungen" worden. Zugleich signalisierte er die Bereitschaft, "freiwillig" in eine Stiftung einzuzahlen. Doch selbst diese Andeutung ging Siemenschef Heinrich von Pierer zu weit. Er betonte, in Sachen Entschädigung sehe er "keinerlei Handlungsbedarf". Das wird sich auch mit dem neuen Urteil nicht ändern, denn Richter Sonnenberger folgte in diesem Punkt der Argumentation der Konzerne: In der Urteilsbegründung behauptet auch er, die Zwangsarbeit sei von der SS "als Teil der kriegsführenden Staatsmacht" angeordnet worden. Deshalb müsse Deutschland als Rechtsnachfolger für die Entschädigung aufkommen - und nicht die Unternehmen.