Der rollende GULag

Stéphane Courtois' Kriminalstatistik im "Schwarzbuch des Kommunismus": Opfer von Arbeitslagern, politischem Mord und Hungertote. Und einen Zug ließen die Genossen auch entgleisen

Am 6. November 1997 erschien in Frankreich ein Buch, das sich als erste umfassende "Verbrechensbilanz des Kommunismus" seit der Machtübernahme der russischen Bolschewiki versteht. Elf Historiker, darunter Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panne, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean Louis Margolin, trugen zur Entstehung des "Livre noir du communisme" (Schwarzbuch des Kommunismus) bei. Die Mehrzahl der Autoren und Autorinnen sind ehemalige Maoisten und Trotzkisten aus der ex-linksradikalen Generation der Jahre um 1968.

Ihre Arbeit, die 848 Seiten umfaßt und für Aufmerksamkeit in nahezu allen Medien sorgte, versteht sich als Bilanz über die Opfer, die die Machtausübung kommunistischer Parteien gefordert hat. Es finden sich Kapitel über die UdSSR (Nicolas Werth), die Komintern und dabei vor allem ihre nach innen, innerhalb der Linken, gerichtete Repression während des Spanischen Bürgerkriegs (Stéphane Courtois und Jean-Louis Panné), den Terrorismus (Rémy Kauffer), Polen (Andrzej Paczkowski) und die anderen Länder des östlichen Europa (Karel Bartosek), den asiatischen Kommunismus mit China, Kambodscha, Laos und Vietnam (Jean-Louis Fargolin) sowie Nordkorea (Pierre Rigoulot), über Kuba und Lateinamerika (Pascal Fontaine), den "Afrokommunismus" (Yves Santamaria) und Afghanistan (Sylvain Boulouqe).

Schon vor Erscheinen des Buches kam es zu erheblichen Spannungen zwischen den Verfassern. Streit entzündete sich an der ideologischen Grundthese des Herausgeber Stéphane Courtois sowie an dem von ihm verfaßten Vorwort, worin er sein Resümee der Gemeinschaftsarbeit formuliert. Ursprünglich sollte Fran ç ois Furet das Vorwort schreiben, Ex-Kommunist und Historiker, der 1994 unter dem Titel "Le Passé d'une illusion" (Die Vergangenheit einer Illusion) veröffentlicht hatte. Es war Furets Abrechnung mit dem revolutionären Bestreben und dem, so seine These, von dieser "Heilserwartung" notwendig erzeugten Terror. Furet, der sich im Vorwort des Buches ausdrücklich positiv auf Ernst Nolte, bezog, ist im Juli 1997 verstorben. So verfaßte Herausgeber Stéphane Courtois sein Vorwort selbst.

Courtois beschreibt seine politischen Hintergrund in einem Interview mit

dem konservativen Figaro-Magazine am 15. November. Auf die Frage "Welches war der auslösende Faktor für ihre Ablehnung des Kommunismus, die von vielen als 'Besessenheit' bezeichnet wird?" antwortet er: "Jede gründliche Forschung enthält ein Stück Besessenheit. Aber mein Interesse für den Kommunismus hat mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Wie viele meiner Generation, war ich mit 20 Jahren, unwissend und naiv, politisch aktiv - auf der maoistischen extremen Linken. Das war 1968. Ich war vier Jahre lang politischer Vollzeit-Aktivist, wobei ich mein Studium vernachläßigte. Die Gruppe, der ich angehörte - sie hieß 'Vive la Révolution' - verteidigte ein klassisches revolutionäres Ideal, das Gewalt nicht ausschloß ..."

In seinem Vorwort versucht Courtois, die Gesamtbilanz der Verbrechen zu ziehen, denen seine Kollegen in den einzelnen Kapiteln detailliert nachgegangen sind und kommt auf "85 bis 100 Millionen Tote des Kommunismus". Hierbei fällt auf, daß er ohne jede Unterscheidung in sein Rechenexempel ebenso die Millionen Opfer von Hungernöten, wie z.B. in der UdSSR zwischen 1932 bis 33 mit sechs Millionen Toten oder in der Volksrepublik China zwischen 1959 und 1961, zu den "Opfern des kommunistischen Systems" zählt wie die Opfer des Einsatzes von Zwangsarbeit oder von gezielter staatlicher Repression. So kommt Courtois zu einer kriminellen Bilanz "des Kommunismus", der aus einer ansonsten friedlichen und idyllischen Geschichte herausragt.

Würde man die angewandte Methode jedoch auf die übrige Welt, auf den Kapitalismus und andere, ihm vorausgehende gesellschaftliche Systeme anwenden, käme man freilich auf Zahlen, die die Opferbilanz Courtois' um ein Vielfaches übersteigen würden. Denn soziales Elend sind in Ländern wie Rußland und China nicht mit dem Kommunismus eingezogen, sondern waren im Gegenteil bereits zuvor so verbreitet, daß sie die Grundlage für die Zustimmung von Millionen Menschen zum kommunistischen "Experiment" bildeten. Die Zwangsarbeit in der stalinistischen UdSSR bildet nur das auf einen Zeitraum weniger Jahre oder Jahrzehnte zusammengeschrumpfte Gegenstück zur historischen Entwicklung in den Metropolen des Kapitalismus, die auf die jahrhundertelange "erwirtschaftete" Basis einer Geschichte von Kolonialeroberungen, Sklavenhandel und späterem "ungleichen Tausch" aufbauen.

Courtois jedoch betrachtet die schwarze "Bilanz des Kommunismus" isoliert und schließt auf den zentralen Stellenwert "des Verbrechens" in der kommunistischen Ideologie: "Die kommunistischen Regime haben das Verbrechen zu einem wahrhaftigen Regierungssystem erhoben." Courtois schreckt auch vor Ernst Noltes Vergleich zwischen Kommunismus und Nazismus nicht zurück: "Hier kommt der Klassen-Genozid dem Rassen-Genozid gleich. Der Hungertod eines ukrainischen Kulaken-Kinds, das vom stalinistischen Regime bewußt dem Hunger überlassen wurde, 'wiegt genauso viel' wie der Tod eines jüdischen Kinds im Warschauer Getto, das vom Naziregime dem Hunger überlassen wurde. (Ö) Die Fakten zeigen, daß die kommunistischen Regime Verbrechen begangen haben, die ungefähr 100 Millionen Menschen betreffen, gegenüber ungefähr 25 Millionen beim Nazismus. Diese simple Feststellung muß zumindest zu einem vergleichenden Nachdenken anregen über die Ähnlichkeit zwischen einem Regime, das ab 1945 als das kriminellste des Jahrhunderts betrachtet wurde, und dem kommunistischen System, das bis 1991 seine internationale Legitimität bewahrte und bis heute in bestimmten Ländern an der Macht ist und Anhänger in der gesamten Welt behält." Die Kommunisten in allen möglichen Ländern werden auf diese Weise zu Komplizen eines Verbrechersystems gestempelt, so natürlich auch die französische KP, die von Courtois ausdrücklich erwähnt wird.

Die beiden Mitautoren Jean-Louis Margolin und Nicolas Werth, die immerhin zwei der wichtigsten Kapitel in dem Band verfaßten - über die VR China und über die UdSSR -, weisen diese Betrachtungsweise jedoch zurück und versuchen, demgegenüber eine Sicht zu etablieren, die am Versuch einer historischen Analyse ohne starre ideologische Prämisse festhält. Nachdem beide Autoren bereits vor Erscheinen des Buchs gegen Courtois' Vorwort opponiert hatten und im Fall Margolin die fristgemäße Ablieferung des Manuskripts durch die Androhung einer Schadensersatzklage erzwungen wurde, publizierten beide in Le Monde am 14. November einen ganzseitigen Text als Antwort auf Courtois. Darin ist etwa zu lesen: "Das Massenverbrechen stellt zwar einen Skandal in der Geschichte des Kommunismus dar, es füllt aber nicht seinen gesamten Horizont aus. Es war nicht universell: man findet es kaum im Fall von Kuba, Nicaragua oder einiger Länder des östlichen Europa. Dort, wo es stattfand, geschah dies in zeitlich eng begrenzten Abschnitten, außer in Kambodscha, wo Pol Pot jedoch nur vier Jahre an der Macht blieb: rund 10 Jahre insgesamt in der Geschichte der UdSSR (1918-22, 1930-33, 1937 /38) und etwa 15 Jahre in der Geschichte der VR China (1946-55; 1959 - 61; 1966-68)." Ferner müsse unterschieden werden zwischen bewußter Repressions- und Vernichtungsabsicht einerseits, die in manchen Abschnitten nicht zu bestreiten sei, und andererseits "dogmatischem Utopismus, überzogenen Abgaben, Realitätsmißachtung der politischen Eliten (...), die zu den großen Hungersnöten in der UdSSR und der VR China (..) führten."

Courtois jedoch hält an seiner Sichtweise fest und setzte in einem Interview mit dem Figaro am 13. November noch einen drauf. Dort begründet er, warum auch die französische KP der "Verbrechen des Kommunismus" mitschuldig sei, als Beispiel an: "Erinnern wir daran, daß die französische KP im Herbst 1947 aufstandsähnliche Streiks organisierte und die Verantwortung

für das Entgleisen des Expreß-Zuges Paris-Lille in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1947 trägt. Bilanz: 16 Tote und rund 30 Verletzte!"

Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Paczowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin: Le Livre noir du communisme. Crimes, terreur, répression. Robert Laffont, Paris 1997, 848 S.