Die Lippen spitzen, ohne zu pfeifen

Auf dem Parteitag in Kassel übten sich Bündnis 90 /Die Grünen im innerparteilichen Schmusekurs. Einziger Streitpunkt: Der Euro

Nichts hätten die Medien lieber gesehen, als daß sich das Schlamassel um die Wahlkampf-Programmatik der Grünen am vergangenen Wochenende auf der Kasseler Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) fortsetzen möge. Doch offenkundig versprach sich keiner der beiden Parteiflügel einen Gewinn, wenn die Debatte um Nato, Wehrpflicht oder Spritpreis vor laufenden Kameras wiederholt würde.

Brav teilte Joseph Fischer in seinem Einleitungsreferat Schläge nur gegen die Bundesregierung und die SPD aus, ging weit zurück in der Parteigeschichte, betonte, daß die Grünen nicht unter Kohl, sondern in Gegnerschaft zum damaligen SPD-Kanzler Schmidt entstanden waren. Solches Bemühen um parteiinterne Integration dankte das Parteivolk mit stehenden Ovationen. Zum konfliktlosen Verlauf hatte aber auch Jürgen Trittin beigetragen, der dem linken Flügel zugerechnete Sprecher des Bundesvorstandes. Mit einer betont schwunglosen Eröffnungsrede stellte er klar, daß ihm nicht daran gelegen war, auf dem Parteitag zu polarisieren, daß er bereit ist, ganz bescheiden die zweite Geige zu spielen.

So konnte der Parteitag die neue grüne Fähigkeit zu einer detailverliebten wirtschafts- und sozialpolitischen Gestaltungsarbeit unter Beweis stellen. Künftig soll, beschloß die Kasseler BDK, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch eine allgemeine Grundsicherung ersetzt werden. 800 Mark monatlich (plus zehn Prozent für ältere und behinderte Menschen) sollen deutsche und nichtdeutsche Anspruchsberechtigte erhalten. Zusätzlich wurde ein genereller Anspruch auf Arbeitsförderungsmaßnahmen festgeschrieben. Das diesbezügliche Konzept des Bundesvorstandes war im Grundsatz unumstritten, zumal die konfliktträchtige Realo-Forderung nach einer Arbeitspflicht für Grundsicherungs-EmpfängerInnen nicht Teil des Leitantrags war. Die über 40 Änderungsanträge betrafen lediglich Detailprobleme und hatten kaum Erfolg.

Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik hatte sich noch vor dem Parteitag ein Konflikt zwischen der zu den Realos zählenden Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck und ihrer linken Kollegin Annelie Buntenbach angekündigt: Beck forderte einen Abschied vom Ziel der Vollbeschäftigung und verlangte statt dessen weitgehende Flexibilisierungsmaßnahmen. Buntenbach hingegen trat für einen "neuen Typ von Vollbeschäftigung" ein, wobei jede und jeder einen Anspruch darauf haben müsse, die eigene Existenz aus Erwerbsarbeit zu sichern. Um dies zu gewährleisten, sei die gezielte öffentliche Förderung ökologisch und sozial sinnvoller Arbeit notwendig.

Die Delegierten bestätigten im wesentlichen diese Linie der Linken, als es zum Beispiel um die Zielvorstellung einer neu zu definierenden Vollbeschäftigung ging. Im Bereich von Arbeitsförderungsmaßnahmen sollen dabei allerdings auch untertarifliche Modelle möglich sein - ein Tribut an die wirtschaftsliberalen Vorstellungen der Realos. Das dürfe aber nicht dazu führen, so heißt es hoffnungsvoll, die Regelungen des ersten Arbeitsmarktes zu unterlaufen.

Die Parteitagsharmonie endete erst, als die europapolitischen Tagesordnungspunkte aufgerufen wurden. In der Debatte um das grüne Abstimmungsverhalten bei der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags konnte - nach nächtlichem Hick-Hack - am Sonntag zunächst noch ein rettender Kompromiß gefunden werden. Für die grünen Linken hatte Claudia Roth diesen im Juni verabschiedeten Vertrag über die Weiterentwicklung der Europäischen Union grundlegend kritisiert: Mit ihm werde es nicht - wie versprochen - zu einem Ausbau der Demokratie in Europa kommen. Im Gegenteil, so Roth, würden Potemkinsche Dörfer aufgebaut: Hinter den schönen Fassaden unverbindlicher Absichtserklärungen würden die Mauern der Festung Europa aufgestockt und die EU nach innen wie nach außen aufgerüstet.

Die von der Fraktionsvorsitzenden der grünen EP-Fraktion geforderte Ablehnung des Amsterdamer Vertrags wurde auf Druck der Realos durch die Forderung nach Nachverhandlungen im Rahmen eines "erweiterten konstitutionellen Prozesses" ergänzt. Hierbei sollten insbesondere die parlamentarischen Kompetenzen und die Bürgerrechte ausgebaut werden.

Der einzige wirkliche Krach auf dem Parteitag entzündete sich dann an der Debatte um eine grüne Position zur Einführung des Euro. Zwischen den drei Anträgen, die der BDK vorlagen, war kein Kompromiß möglich: Der Frankfurter Realo und außenpolitische Sprecher der grünen EP-Fraktion, Daniel Cohn-Bendit, hatte ein emphatisches Ja zum Euro gefordert. Vor dem Hintergrund der von Deutschland verursachten Weltkriege komme dies faktisch einer antifaschistischen Tat gleich. Jürgen Trittin hatte für den Bundesvorstand ein Kompromißpapier vorgelegt. Dieses unterschied sich von dem Realo-Antrag durch eine deutlich formulierte Kritik an den neoliberalen Konvergenzkriterien des Euro. Bei ihnen müsse es aber nicht bleiben. Vielmehr sei es, so Trittin, möglich, die Währungsunion im Sinne einer ökologischen Nachhaltigkeit und einer europäischen Beschäftigungspolitik zu flankieren. Um diese sozial-ökologische Reformperspektive nicht zu gefährden, sollten die Grünen sich für eine fristgerechte Einführung des Euro einsetzen.

In der abschließenden Kampfabstimmung setzte sich dann aber - anders als allgemein erwartet worden war - der Antrag durch, den der zur Parteilinken gehörende Europa-Abgeordnete Frieder Otto Wolf eingebracht hatte. Dieser Antrag teilt Trittins Kritik an der neoliberalen Euro-Konzeption. Er zeigt sich ähnlich hoffnungsfroh wie der Bundesvorstand, daß sich mit der rot-grünen Regierung Frankreichs in den kommenden Monaten doch noch eine sozial-ökologisch verträgliche Einführung des Euro realisieren ließe. Der Antrag der Linken läßt aber - und das ist entscheidend - offen, wie sich die Grünen verhalten, falls sich ihre Hoffnungen in die Regierung Jospin nicht erfüllen. Ein Delegierter kommentierte: "Die Grünen spitzen wieder einmal die Lippen, ohne zu pfeifen."