Es hilft uns nur deutsche Kultur

Diskurstheorie kommt zu sich selbst. Über den nächsten Akt des Verdrängungswettbewerbs um das Berliner "Denkmal für die ermordeten Juden Europas".

Die seit 1988 andauernde Debatte um das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" ist selbst zu einem bombastischen Verdrängungswettbewerb geworden. Lea Roshs Diktum, daß ein Verbrechen ungeheuren Ausmaßes auch ein entsprechendes Denkmal brauche, bestätigte sich wenigstens im "Diskurs" um die Art und Weise, wie an die ermordeten Juden erinnert werden soll, auch wenn der von Frau Rosh favorisierte Entwurf der Künstlerin Christine Jackob-Marks nicht verwirklicht wird. Die riesige Grabplatte mit Namen der jüdischen Opfer kommt nicht, auch nicht ihr modifizierter Entwurf, eine Karte Europas mit Stelen, auf denen Monitore installiert sind, auf denen die Namen vorbeiflimmern. Die gnadenlos konstruktive Debatte um das nationale Gedenken geht nun in die Schlußrunde, und wie in Deutschland kaum anders zu vermuten, ist der wichtigste Akt der Verwaltungsakt. Enttäuscht von den beinahe zehn Jahren Streit um dieses Denkmal kann nur sein, wer die unterschiedlichen Meinungen, die in diesem Streit zutage getreten sind, als entgegengesetzte Positionen wahrnahm.

Entgegengesetzte oder unterschiedliche Meinungen gab es nur über die ästhetische Vermittlung, über die Ikonographie des Denkmals, nicht aber über die Frage, was das Denkmal darstellen soll: Einig sind sich alle darin, daß es ein solches Denkmal geben müsse, das in Berlin schon "Holocaustdenkmal" heißt, obgleich es nicht um den Massenmord selbst, sondern um seine Opfer geht. Nicht an das Verbrechen wird erinnert, sondern an seine Dimension - in der unbezifferbaren Zahl der Opfer. Rekonstruiert wird der Holocaust im christlichen Sinne als Brandopfer - als das Gericht der Geschichte über die Juden -, dekonstruiert wird das Verbrechen selbst, in dem der Holocaust zu einem Kapitel der "Großen Erzählung der Moderne" gemacht wird. So freilich läßt es sich mit sechs Millionen Toten gut leben.

Soviel Streit es auch gegeben haben mag: Nur wenige der Künstlerinnen und Künstler stellten sich noch die Frage, ob der Massenmord überhaupt visualisierbar sei; noch weniger fragten nach der Funktion, die ein solches Denkmal ideologisch haben könnte. Von den neunzehn Entwürfen des zweiten Wettbewerbs, der sich durch eine neurotische Konspiration auszeichnete, sind nun noch vier im Rennen, unter denen im Januar kommenden Jahres ausgewählt werden soll.

Favorisiert wird der Entwurf zweier New Yorker Künstler, Peter Eisenman und Richard Serra. "Ein großes Feld aus knapp einem Meter voneinander entfernt emporragenden Betonstelen, das, auf abschüssigem Terrain errichtet, wie ein topographisches Raster wirkt," beschreibt der Spiegel den Entwurf, der sich scheinbar der Visualisierung entzieht, aber auch vollkommen austauschbar ist. Außerdem noch dabei: Entwürfe von Jochen Gerz (Paris), Gesine Weinmiller (Berlin) und Daniel Libeskind, der ein "Denkmal der Schande, das niemanden ehrt, ein Nicht-Denkmal" vorschlägt. Er will die Hohlräume seines im Bau befindlichen Jüdischen Museums ausgießen lassen und den Abdruck auf eine Kiesfläche in Form des Grundrisses des Reichstagsgebäudes stellen. Weisen soll das Denkmal zum Goethe-Standbild im Tiergarten.

In der großen Einigkeit, die sich in der Gewißheit ausdrückt, es habe noch kein Ereignis gegeben, dessen sich Kunst nicht bemächtigt habe, heben sich auch scheinbare Gegensätze auf. Der "radikale Dekonstruktivist" (Spiegel) Daniel Libeskind wird zum konstruktiven Mitgestalter nationaler Identität. So sehr sich sein Entwurf auch diesem Aspekt verweigern mag - als Denkmal realisiert, bliebe doch nur die Frage, welche Stelle zum "Kranzabwurf" (Eike Geisel) denn am besten geeignet sei.

Letztlich werden derartige Kriterien bei der Entscheidung den Ausschlag geben, ganz unabhängig davon, wie kritisch der Entwurf daherkommt. Daß dabei jene Entwürfe die größere Chance haben, welche auf figürlich-symbolische Elemente nicht verzichten, weil diese eine größere Identifikation der Betrachtenden erlauben, kann bei der Jury getrost vorausgesetzt werden. Berlins Kultursenator Radunski, dessen Abneigung gegen die abstrakte Kunst der Moderne über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist, wird als Leiter der Jury nur einen Entwurf durchgehen lassen, den er "versteht". Und es kann auch sein, daß Radunski Libeskind "versteht", also wahrscheinlich eine äußerst eigensinnige Interpretation liefern wird. Verlangt wird von dem Denkmal eine Qualität der Abstraktion, die einem Denkmal schlicht nicht eignet, und zugleich eine Quantität der Konkretion, die auf die sechs Millionen Ermordeten verweist.

"Ein berüchtigter hochrangiger Nazi sagte einmal, wenn der das Wort 'Kultur' höre, greife er zum Gewehr. Sobald heute gute Deutsche das Wort 'Nazi' hören greifen sie ausnahmslos zu ihrer Kultur. Es ist beinahe so, als ob die einzige Sicherheit vor der Rückkehr dieser gefürchteten Vergangenheit in ihrer beständigen ästhetischen Sublimation besteht - in der Kunst, der Literatur, der Musik und letztendlich in den Denkmälern, mittels derer die Ära des Nationalsozialismus im heutigen Deutschland gleichzeitig erinnert und aufgehoben wird. In Anbetracht der Tendenz von Denkmälern, so viel Erinnerung zu verdrängen, wie sie hervorrufen, könnte tatsächlich gesagt werden, daß der Impuls, Ereignisse wie den Holocaust zu erinnern, von dem entgegengesetzten und gleichberechtigten Wunsch herrührt: nämlich sie zu vergessen", meint der Denkmalsexperte James Young, der als Mitglied der Jury mit entscheiden wird, welches Denkmal gebaut wird und damit auch darüber, was erinnert und was vergessen werden soll. Den Juden soll als "Gründungsopfer der Berliner Republik" (Gabriele Werner) gedacht werden, die gesellschaftliche und politische Dominanz der Tätergeneration soll hingegen in Vergessenheit geraten.

Im Bewußtsein ihrer eigenen Marginalisierung schaffen sich die "guten Deutschen", von denen Young spricht, tatsächlich selbst eine "Bedeutung", indem sie auf die Kultur ausweichen und gnadenlos alles, was sie an ihre eigene Machtlosigkeit erinnert, kulturalisieren. In dieser Logik wird alles zum Artefakt, und als solches kann es besser rationalisiert werden, denn als ein Ereignis oder dessen Nachklang. In der Debatte um das Denkmal wurde dies eindrücklich vermittelt, denn immerhin wurde geredet, als ginge es hier um etwas, genauer: um den ästhetischen Ausdruck eines nationalen Konsenses, der die deutschen Verbrechen nicht länger verleugnet. Nicht umsonst dient gerade diese Debatte vielen linken Autorinnen und Autoren dazu, Veränderungen im Umgang mit der Nazi-Vergangenheit zu konstatieren, obwohl sie gerade das Gegenteil beweist.

So zum Beispiel Christoph Schneider in der Zeitschrift 17û Celsius: So sehr seinen Bemerkungen zum Berliner Mahnmal zuzustimmen ist, eben: daß "die Kategorien, in denen Auschwitz, Nazi-Deutschland, Judenmord verarbeitet werden, längst von Artefakten geprägt (sind), die sich massenmedial vermitteln ließen", so sehr ihm beizupflichten ist, wenn er schreibt: "Klingt der Abend mit den Überlebenden aus in höflichen Floskeln der Talkshow, ist das eine Entscheidung, klingt er aus mit der pathetischen Versicherung nie, nie vergessen zu wollen, bevor es zum Bier geht, ist das auch eine", so sehr das neue Motto zu sein scheint: "Deuten statt verschweigen!", während "aus den wortreichen Bekenntnissen zur Geschichte keine wesentlich anderen Konsequenzen gezogen" werden - seine Beschreibung bleibt beliebig, er entzieht sich dem, was noch immer verschwiegen wird, was unter dem Getöse kulturindustrieller Verwertung untergeht. Nicht irgendeine Form von "eigentliche(r) Erinnerung" nämlich, sondern jene "Leerstelle des Schweigens", die eben nicht mit der volksgemeinschaftlich-allgemeinen Verleugnung identisch ist: Es sind die Toten, ihre ausgelöschte Erinnerung. Erinnerung, die nicht als Riß begriffen wird, als Nichtmehrzusammenzufügendes, muß zwanghaft Identität produzieren, und sei es in der kritischen "Rekonstruktion einer Weigerung, deren Sinn und Nutzen fortdauert" - wer sich billig aus der Affäre zieht, indem er die Leerstelle, die bleiben wird - die unmögliche Erinnerung an die Toten - gar nicht mehr ins Bewußtsein dringen läßt, erliegt der Versuchung, das Verbrechen zu objektivieren.

"16. Erzielen von emotionaler Tiefe beim Studieren des Ortes durch starke räumliche Wirkung. 35. Die Leere und Öde des Mahnmalbereiches wird ein lebendiger, dichter Wald aus Blutbuchen. 139. Es sind viele Antworten denkbar - alles hängt vom Standpunkt ab. 235. Der Tod ist unendlich. 241. Für jedes Opfer eine Rose. 244. Die unendliche Versöhnung." Die Nummern sind Entwürfen für ein Denkmal zugeordnet, entnommen einem Bericht für einen Wettbewerb. Alle diese Sätze sind so oder in ähnlicher Form auch in Zusammenhang mit dem "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" zur Rechtfertigung der zahlreichen absurden Entwürfe benutzt worden. Diese Sätze beziehen sich jedoch auf das geplante Mahnmal für die Maueropfer, das seit dem 9. November errichtet wird. "Obgleich die Textpassagen aus dem Zusammenhang gerissen sind, erweisen sich diese Abstraktionen, die die Grenzen der Banalität weit überschreiten, als stringente Kalendersprüche des Zeitgeistes", schrieb die Autorin Traudel Stein zu der Auswahl der Sätze.

War die Gleichsetzung von Opfern und Tätern, wie sie zum Beispiel in der Neuen Wache zum Ausdruck kommt, vor einigen Jahren noch Thema kritischer Reflexion, hat sich im Rahmen einer "Diskurslogik" mittlerweile durchgesetzt, daß alles vergleichbar ist, wird es nur genügend banalisiert. Weil die "Bedeutung" im "Diskurs" erst geschaffen wird, ist das Ereignis, welches für ihn den Anlaß schafft, nichts, dessen Rationalisierung jedoch alles. Diese positivistische Herauslösung erlaubt es selbst kritischen Geistern, sich an der Bildung nationaler Identität zu beteiligen. An dieser Stelle kommt die deutsche Variante der Diskurstheorie zu sich selbst, als Versuch, endlich Auschwitz loszuwerden. Neutralisiert in den Bedeutungszusammenhängen der "Großen Erzählung", wird der Massenmord zum ästhetischen Problem, es geht nicht mehr um das Verbrechen selbst, sondern um seine Darstellung im nationalen Kontext. Daß alles so gut zusammenpaßt, Radunski und Libeskind, Volkskultur und Dekonstruktivismus, hat seine Ursache in der Funktionalität beider "Diskurse" für die Entwicklung einer zeitgemäßen deutschen Identität.