Streiken für Asylbewerber?

Die Proteste an den bundesdeutschen Universitäten weiten sich aus. Doch viele Streikende haben Angst vor zu viel Radikalität

In einem Pädagogikseminar im hessischen Gießen fing alles an. Der Dozent weigerte sich, die über 500 Studierenden in dem völlig überfüllten Raum zu unterrichten, und forderte die jüngeren Semester auf zu verschwinden. Diese blieben trotzdem, der Dozent brach die Veranstaltung ab und der Uni-Streik 1997 brach los. Eine Vollversammlung beschloß am 29. Oktober den Vorlesungsboykott. Nach und nach schlossen sich insgesamt 17 der zwanzig Studiengänge in Gießen an. Neben der Besetzung einzelner Institute wurde auch die zentrale Verwaltung der Universität lahmgelegt und eine Demonstration durch die Gießener Innenstadt geplant.

Die 7 000 TeilnehmerInnen durften sich dann auch über die Solidaritätsbekundung des Universitätspräsidenten freuen, der vorher auch schon mal mit der Polizei gedroht hatte. Und mittlerweile können sich die Gießener Studierenden als Auslöser einer bundesweiten Protestwelle an den Unis begreifen.

Ihr Streik sei "Protest gegen den Zustand an der Universität und gegen die hessische und bundesdeutsche Sparpolitik", schreiben die Gießener Studierenden in einer Präambel zu ihrem Forderungskatalog. Als sich auch in Marburg die Studierenden auf einer Vollversammlung am 10. November zum Streiken entscheiden wollen, sehen sie sich einer Erklärung gegenüber, die die Situation an den Hochschulen als Ausdruck der "Ausweitung von Wettbewerb auf alle gesellschaftlichen Ebenen" sieht und in eine Reihe stellt mit "Kürzungen von Leistungen für Arbeitslose, Sozialhilfeberechtigte und AsylbewerberInnen". Eine heftige Debatte entzündet sich an diesen "tendenziösen" Sätzen. "Sollen wir etwa für Asylbewerber streiken?" fragt empört ein Physikstudent. Ausgebuht und beschimpft wird eine Rednerin, die eine stärkere Berücksichtigung von Frauen in der Erklärung fordert. Die Angst geht um, mit über die Hochschule hinausgehenden oder zu radikalen Forderungen nicht ernst genommen zu werden. Schließlich wird ein Text verabschiedet, der alles enthält: Protest gegen Sozialabbau und gegen die Schließung "renommierter Institute", Forderungen nach besseren Bibliotheken und dem politischen Mandat für die Studierendenvertretungen.

Nachdem die für viele lästige inhaltliche Diskussion abgeschlossen ist, beginnt der Streik auch an der Philipps-Universität in Marburg. Bis zu 70 Arbeitskreise werden in den besetzten Universitätsgebäuden angeboten. Weniger als zehn davon arbeiten zu inhaltlichen Themen. Der Streit geht jetzt zwischen den einzelnen Fachbereichen um die Form des Streiks. Die Besetzung der geisteswissenschaftlichen Institute ohne vorherigen Beschluß paßt einigen Fachschaften nicht. Lehrenden und Studierenden würden so vor den Kopf gestoßen. Ein "Arbeitskreis Mißstände" fordert gar, statt von Besetzung von "Blockierung" zu reden, um der "Assoziation des 'linken', vermummten, langhaarigen 'Steinewerfers'" zu entgehen.

Neben der Inhaltsleere fällt vor allem die Autoritätshörigkeit der Studierenden auf. Konfrontationen mit den Lehrenden lehnt die überwiegende Mehrheit ab, und im Gegensatz zu den Gießener Studierenden sieht man in Marburg auch nicht die Notwendigkeit einer Besetzung der Verwaltung. Kein Wunder, daß Universitätspräsident Werner Schaal ohne Einschränkung seine Sympathie bekundet und den Streik zum "legitimen Mittel der Studenten" erklärt. Genauso wie die Mehrheit seiner Studierenden sorgt auch er sich vor allem um Qualität und seinen Hochschulstandort. Zuständig dafür sei die Landesregierung in Wiesbaden.

Im Anschluß an die Demonstration konnten die Studierenden dann auch den leibhaftigen Übergang von der Protest- zur Sparzwangpolitik beobachten. Um keine Verstöße gegen die Bannmeile des hessischen Landtages zu riskieren, hatte sich der Finanzminister des Landes Karl Starzacher (SPD) auf dem Marktplatz eingefunden, um mit den Studierenden "in einen Dialog zu treten". Der Dialog endete allerdings, nachdem der Minister ihn den Studierenden verkündet hatte. Bevor der erste Student über ein Polizeimikrophon eine Frage stellen konnte, hatte sich Starzacher wieder in sein Ministerium verzogen und die Studierenden seinem Kollegen von den Grünen überlassen.

Für die Landesregierung mußte fortan Fraktionsvorsitzender Alexander Müller die kritischen Fragen beantworten. Er versuchte sich im Spagat zwischen Regierungs- und Bewegungspartei. Doch sein Verweis auf vergangene studentenbewegte Tage brachte dem Marburger bei den DemonstrantInnen keine Pluspunkte.

Einen Tag nach der Wiesbadener Demonstration erklärten die Studierenden der Frankfurter Goethe Universität unter freiem Himmel den Streik. Inzwischen streiken auch Bremen, Darmstadt und Köln. Ein Vertreter des ReferentInnenrates der Berliner Humboldt-Universität versprach, noch im November eine Vollversammlung einzuberufen. Und in Marburg geht das Gerücht, selbst die Studierenden in London wollten sich den Protesten anschließen.

Während ihre KommilitonInnen vorerst munter vor sich hinstreiken und noch nicht wissen, wieviel Radikalität dabei erlaubt sein soll, haben die gewählten Studierendenvertretungen noch ganz andere Probleme. In Marburg muß der Asta mehr als 9 000 DM Strafe wegen Verstoßes gegen das Verbot der allgemeinpolitischen Äußerung von Studierendenvertretungen zahlen. Die Klage haben die Republikaner um den Jurastudenten Eike Erdel eingebracht. Da leuchtet auch den Streikenden die Forderung nach dem politischen Mandat ein: "Hätten die Reps nicht geklagt, hätten wir jetzt mehr Geld für Plakate", moniert ein Student. Wo er recht hat, hat er recht.