Reggae-Boys & Beatles

Mit zwei Liberos, ausgeprägter Ballhaltetechnik, privatwirtschaftlicher Unterstützung und defensiver Taktik schaffte Jamaikas Fußball-Nationalmannschaft den Kick zur WM

Daß Jamaika eine Fußball-Nationalmannschaft hat, wurde weltweit erst im Frühjahr richtig zur Kenntnis genommen, und auch da fand man die jamaikanischen Auswahl-Kicker weniger auf den Sportseiten, sondern eher in der Rubrik "Buntes aus aller Welt" wieder. Denn damals hatte der Artikel eines bolivianischen Journalisten für Aufsehen gesorgt, in dem behauptet wurde, die jamaikanische Elf habe ein Freundschaftsspiel, das sie 6:0 verlor, in Bolivien zur Farce gemacht. Die Kicker seien wohl bekifft gewesen, denn zunächst hätten sie nur schrecklich gekichert und ihre Gegner ausgelacht, danach seien sie völlig ohne Grund einfach umgefallen, hieß es in dem Text, der in Jamaika für große Empörung sorgte. Denn die jamaikanischen Kicker hatten, so begründete man die seltsamen Ausfälle, mit der dünnen Höhenluft am Spielort Oruro, 3 700 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, große Probleme gehabt. "Wir sind keine Witzbolde, außerdem sind meine Spieler Profis, und deswegen kiffen sie nicht!" erklärte der aus Brasilien stammende Nationaltrainer Rene Simoes empört, aber für die Fußballwelt stand trotzdem das Gegenteil fest.

Erst als Jamaika am 16. November gegen Mexiko im entscheidenden Spiel in der Qualifikationsendrunde der Nordamerika/Mittelamerika/Karibik-Zone (CONCAAF) ein 0:0 schaffte, während Konkurrent El Salvador gegen die USA klar mit 2:4 verlor, stellte man weltweit fest, daß die Jungs aus Jamaika wohl doch richtige Kicker sind. Der dritte Platz in der CONCAAF-Gruppe, hinter Mexiko und den USA, reichte aus, um sich für die Fußball-WM in Frankreich zu qualifizieren.

Immerhin kann man als erstes Land der englischsprachigen Karibik überhaupt an einer Weltmeisterschaft teilehmen, dies gelang bisher nur zwei karibischen Staaten, 1938 Kuba und 1974 Haiti. Ministerpräsident Percival James Patterson sprach so auch ausdrücklich vom "zweifellos größten Tag in Jamaikas Sportgeschichte" - im Anschluß an das Spiel fand die größte Feier seit der Unabhängigkeit des Landes am 6. August 1962 statt. In Montego Bay ließen sich die Fans auch von strömendem Regen nicht abhalten, mit dröhnendem Gehupe und Scheinwerferblenden einen Autokorso zu veranstalten. Percival James Patterson benutzte den Sieg gleich für den eigentlich schon seit zwei Monaten stattfindenden Wahlkampf, der bisher allerdings aufgrund der Erfolge der Reggae Boys kaum bemerkt worden war, und verlängerte das Fest kurzerhand um einen Tag, indem er den Montag zum Public Holiday (Nationalen Feiertag) ausrief, arbeits- und schulfrei für alle.

Gefeiert wurde aber überall auf der Insel, auch von der Privatwirtschaft, die eigens ein Förderprogramm "Road to France" gegründet hatte. Denn jedes Länderspiel wird zum nationalen Ereignis. Egal, wann das Spiel im "The Office" genannten Nationalstadion in Kingston beginnt, das Szenario ist immer gleich. Weil das Stadion sehr baufällig ist, drängeln sich stets mehr Zuschauer als die offiziell angegebenen 35 000, denn es ist nicht besonders schwer, unbemerkt hineinzuschlüpfen. Weil aber auch in Jamaika die guatemaltekische Stadionkatastrophe vom vorigen Jahr noch gut in Erinnerung ist, wurden jetzt die Kontrollen verschärft.

Aber trotzdem sorgen die Fans der "Reggae-Boys" genannten Nationalelf in der Regel schon am Morgen für einen Ausnahmezustand in Town, wie Kingston mangels anderer Großstädte auf der Insel genannt wird. Um das Stadion herum trifft man sich schon sehr früh, drei Stunden vor dem Spiel ist es schon mindestens zur Hälfte gefüllt. Denn zur Unterhaltung wird weit mehr geboten als nur Fußball. DJs treten auf, bis Spielbeginn dröhnt drei Stunden lang unablässig Reggae-Musik aus den unzähligen auf der Tartanbahn aufgestellten Boxen und in der Pause gibt sich die Prominenz der Reggae-Szene das Mikro in die Hand, um mit kurzen Live-Acts das Publikum auf die zweite Hälfte einzustimmen. Beim vorletzten Heimsoiel gegen Costa Rica traten so Bounty Killer und Beenie Man auf, gegen Mexiko war es die lebende Legende Jimmy Cliff, der mit "Many Rivers to Cross" und "The Harder They Come" das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriß.

Die Stimmung während des Spiels kann da jedoch nur selten mithalten, das jamaikanische Publikum legt ein aus europäischer Sicht eher ungewöhnliches Verhalten an den Tag: Es gibt keine permanenten Fan-Gesänge. Statt dessen herrscht, wenn der Gegner in Ballbesitz ist, angespannte Ruhe, die sich bei jeder vergebenen Chance und jedem jamaikanischen Ballgewinn in Begeisterung entlädt, die sich dann in Richtung Ekstase entwickelt, wenn die Jamaikaner zu Torchancen kommen.

Das ist ziemlich selten der Fall, denn Jamaika praktiziert eine extrem kontrollierte Offensive, wie der auf Jamaika völlig unbekannte Otto Rehagel die Taktik wohl nennen würde. Ein Libero spielt hinter der Abwehr, einer davor, zwei Innen- und zwei Außenverteidiger sorgen dafür, daß der Gegner nicht zum Toreschießen kommt. Oberstes Ziel ist der Ballbesitz, wenn man ihn sich schließlich errangelt hat, dann wird er in den eigenen Reihen gehalten. Den Gegner läßt man ins Leere laufen, hin und wieder wagt man einen Paß in die Tiefe, auf die beiden in England spielenden Stürmer Deon Burton (Derby County) und Paul Hall (Portsmouth). Seit der Rückrunde Anfang September bilden sie den Sturm der Reggae Boys. Zusammen mit den anderen "Engländern", Mittelfeldregisseur Fitzroy Simpson von Portsmouth und dem bei Wimbledon tätigen Ergänzungsspieler Robby Earle wurden sie während der karibischen Meisterschaft und in Freundschaftspielen während der Pause bis zum Rückrundenstart getestet. Schließlich wurden sie "Beatles" getauft und in die Reggae Boys integriert. Beatles und Reggae Boys - ob das wohl paßt? Es paßt. Inzwischen verstehen sich die Spieler so gut, "als lebten sie in einem schwarz-gelb-grünen U-Boot zusammen", wie in Jamaika gern gesagt wird. Dabei hatte es nach dem Erreichen der CONCAAF-Endrunde im Dezember 1996 heftige Diskussionen darüber gegeben, ob die Reggae Boys wirklich mit jamaikanischen Spielern aus Übersee verstärkt werden sollten. Die Mehrheit lehnte dies klar ab, weil sie es als eine Zurücksetzung der Inselspieler empfand, die mit dem Erreichen der Endrunde schon den bis dahin größten Erfolg in der Fußballgeschichte des Landes geschafft hatten.

Der Fußball-Verband schloß sich dieser Position zunächst an, so daß die Vorrunde nur mit einheimischen Spielern bestritten wurde. Die schafften aber nur zwei Toren und fünf Punkte, die Teilnahme an der WM in Frankreich war ernstlich in Gefahr. In dieser Situation begann die Diskussion um die "englischen Spieler" und ihren Einsatz erneut. Diesmal setzte sich der Trainer Simoes durch: "Wir müssen unsere Offensive stärken, dafür werden genau diese Spieler gebraucht", erklärte er, fügte aber gleich hinzu, daß die "Engländer" nicht mit Sonderbehandlung rechnen könnten: "Sie müssen in den gleichen Hotels schlafen und bekommen das gleiche Essen wie die andern. Wenn sie das nicht akzeptieren, brauchen sie gar nicht erst zu kommen." Neun potentielle Nationalspieler kamen schließlich, vier bestanden den Somoeschen kombinierten Spiel- und Charaktertest. Burton, Hall, Simpson und Earl sorgten nicht nur dafür, daß Jamaika kein Spiel mehr verlor. Alle fünf Tore wurden von den "Engländern" erzielt, Burton schaffte vier, Hall eins, und Jamaika die Teilnahme an der nächsten WM.

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