Schuß im Schuh

Gefährliche Orte XI: Der Supermarkt gegenüber - Mord im Penny-Markt.War's der Brot- oder der Gemüsehändler?

Als Knud Kohr vor kurzem erzählte, er habe versucht, die Gesammelten Werke Arthur Conan Doyles zu lesen, sei aber am überaus langweiligen Band 9 endgültig gescheitert, erinnerte ich mich an die mittelmäßige Erzählung "Sechsmal Napoleon". Nach einem Mord werden Sherlock Holmes und Dr. Watson in die Pitt Street 131 bestellt, wo sie auf einen "äußerst ungepflegten Mann im Flanellschlafrock" treffen: Horace Harker. Ein Journalist, der "oft bis in die Morgenstunden über seinen journalistischen Arbeiten" sitzt, jetzt jedoch schwer erschüttert ist, denn: "Ich komme zu spät mit dem Bericht über einen Mord heraus, der auf meiner eigenen Schwelle passiert ist."

Zwar trage ich gewöhnlich keinen Flanellschlafrock, aber bei mir ist ein Mord geschehen, wenn auch nicht auf meiner eigenen Schwelle, sondern im Haus gegenüber. Im Penny-Markt auf der Potsdamer Straße wurde eine Kassiererin erschossen. Am frühen Morgen des 27. Oktober 1997 fand ein Mitarbeiter ihre Leiche. Sie lag vor dem geöffneten Safe im Büro, 70 000 DM erbeuteten die Täter. Da die Eingangstüren des Marktes nicht aufgebrochen waren, muß das spätere Opfer seine Mörder selbst hereingelassen haben.

Eine Woche lang hing an der Eingangstür ein Schild: "Aus technischen Gründen bleibt die Filiale geschlossen". Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ein Mordopfer persönlich gekannt habe, wobei sich die Bekanntschaft auf Dialoge reduzierte wie "Hamse vielleicht 24 Pfennige kleen?" - "Ja, aber eine Tüte bitte noch."

Die 29jährige Kerstin M. aus Marzahn war eine unauffällige Alltagsperson im gräulichen Kittel, die selbst die geschäftigsten Momente mit souveräner Routine bewältigte, mitunter jedoch bei Preisnachfragen ("Wieviel kostet det Curry-Ketchup jezze?") ins kieksig Alberne verfallen konnte. Für den vorbeirauschenden Kunden bestand ihr Leben aus dem Piepsen der Scanner-Kasse, dem Abräumen von Produkt-Paletten und dem Verzehr plattgedrückter Mon Chérie-Pralinen. Morgens war sie als stellvertretende Filialleiterin oft die erste im Laden, die auch den Safe für das Wechselgeld und die Einnahmen des vorigen Tag öffnete, was ihr Mörder anscheinend wußte.

Bald konzentrierten sich deshalb die Ermittlungen der Mordkommission auf ihren Bekanntenkreis, wo man entdeckte, daß die glanzlose Kerstin M. ein Nebenleben führte. Vier Jahre lang hatte sie ein Verhältnis mit dem "Brot-" (SFB) bzw. "Gemüselieferanten" (Berliner Zeitung). Ein Verhältnis, von dem ihr Mann wußte, und das die Ermittler auf die Spur der Täter führte: Ali C. (30) und Ender A. (21), der Geliebte und sein Kumpan. "Ali C. präsentierte sofort ein Alibi", binnenreimte sich die BZ zusammen. Er habe seine Kinder in den Kindergarten gebracht, was die Ermittler mißtrauisch machte, da dies ungewöhnlich für C. gewesen sei. Also überwachten sie ihn und fanden schließlich heraus, daß C. bei einem Freund einen größeren Geldbetrag deponiert hatte, der eindeutig aus dem Raub stammte. Wer C. sagt, muß auch B sagen, und wer aufs fremde "Beziehungskarussell" (BZ) steigt, dem kann schon mal schwindelig werden wie den BZ-Reporterinnen Anne Losensky und Katja Reim, die direkt in die heißesten Feuer der Wortspielhölle griffen: "Kurz vor dem Todesdrama verschoß sich die junge Mutter in einen weiteren Mann". Nichts irritiert die beiden BZ-Schnatzen mehr, als das abwechslungsreiche Liebesleben einer jungen Frau, die sich eben nicht in einen "weiteren" Mann "verschoß", sondern ihrem alten Liebhaber den Laufpaß gab, um einen neuen zu wählen.

Die zwei türkischen Spandauer haben ihre Tatbeteiligung inzwischen gestanden, doch "beide schieben sich jetzt die tödlichen Schüsse in die Schuhe", meldeten unsere BZ-Orgeln im weiteren, ohne zu bedenken, daß es sich schlecht läuft auf Schuhen mit tödlichen Schüssen. Mindestens einen Schuß aber muß man schon haben, um auf 53 Textzeilen einen solchen Quark herunterzuschmieren und nach Sichtung der

Motivlage folgerichtig zum glasklaren Schluß zu kommen: Es waren "Habgier und gekränkte Männerehre".

Vielleicht sollte man statt BZ-Reportagen doch wieder mehr Arthur Conan Doyle lesen, auch wenn es in seinen Kriminalerzählungen oft nur um tote Gegenstände wie die "schwarze Borgia-Perle" geht, deren Verbleib in einer Napoleon-Büste Holmes durch eine aufreizend kurze Recherche im privaten Zeitungsarchiv klärt. Aller Ehren wert ist jedenfalls, daß es der Journalist Horace Harker schließlich doch noch schafft, seinen Bericht vom Mord zu schreiben, der auf der eigenen Schwelle geschah.