Der Tod kam um zwei Uhr nachts

Die Bombe in der Berliner Diskothek paßte ins politische Kalkül der Reagan-Administration

Die Tanzfläche war gedrängt voll, als die Bombe hochging: Deutsche, Türken, Araber. Weniger amerikanische Soldaten als sonst, es war Manöverzeit. Das "La Belle" im Berliner Stadtteil Friedenau war kein glanzvoller Schuppen, mit den großen Diskotheken am Kurfürstendamm konnte es sich nicht messen. Trotzdem war die Stimmung in dieser Samstagnacht gut. Doch um zwei Uhr kam der Tod: Am Rande der Tanzfläche zündeten mehrere Kilogramm Sprengstoff. Die Tanzenden wurden übereinander geworfen, viele verloren das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kamen, dachten manche Besucher zunächst, das Haus sei eingestürzt: Als sie die Diskothek am Abend des 4. April 1986 betreten hatten, hatten sie das Gerüst gesehen, das die Fassade bedeckte. Jetzt war der Laden in tiefes Dunkel getaucht. Der Eingang war nicht mehr passierbar, wer noch gehen konnte, mußte durch ein Loch in der Wand auf die Hauptstraße hinaus. Rund 230 Besucher waren verletzt, ein schwarzer US-Soldat starb sofort, ein weiterer und eine Berliner Türkin erlagen später ihren Verletzungen.

Zehn Tage später kam der Tod abermals um zwei Uhr nachts. Nach sechseinhalbstündigem Flug rund um die iberische Halbinsel griff ein Geschwader von 13 US-amerikanischen Jagdbombern F-111 die libysche Hauptstadt Tripolis an. Gleichzeitig attackierten vierzehn Kampfflugzeuge A-6 "Intruder", die von dem Flugzeugträger "Coral Sea" aufgestiegen waren, Libyens zweitgrößte Stadt Bengasi. Für den Schlag gegen Gaddafi brachten die US-Amerikaner zum Einsatz, was sie an militärischer Hi-Tech zu bieten hatten: Spionageflugzeuge und Flugzeuge mit Einrichtungen zum Stören von Feindradar, zwei fliegende Kommandozentralen vom Typ E-2C "Hawkeye", zwei Zerstörer, ein Atom-U-Boot und zwei Flugzeugträger. Die F-111 und die "Intruders" warfen eine Bombenlast von rund 60 Tonnen ab, die nicht nur den Marinehafen Sidi Billal - nach US-amerikanischer Darstellung "ein Trainingszentrum libyscher Einheiten" - und den Flughafen von Tripolis traf, sondern auch Wohnviertel in beiden angegriffenen Städten. In den Trümmern starben nach unterschiedlichen Angaben 30 bis 100 weitere Menschen, darunter die 15 Monate alte Ziehtochter von Staatschef Muammar al-Gaddafi.

Dem Angriff waren hektische diplomatische Konsultationen mit den europäischen Verbündeten vorausgegangen. Insbesondere der italienische Außenminister Giulio Andreotti und Frankreichs Präsident Fran ç ois Mitterrand hatten den Amerikanern von einem Militärschlag abgeraten. Am Tag nach der Explosion hatte der Bonner US-Botschafter Richard Burt von "sehr klaren Beweisen" für eine libysche Urheberschaft gesprochen. Doch die US-Geheimdienste konnten allenfalls Indizien vorlegen: Zwei zerrissene Funksprüche des libyschen Volksbüros in Ostberlin, einer vor der Tat, einer danach, konnten mit einigem bösen Willen als Ankündigung und als Bestätigung des Bombenanschlags gewertet werden. Doch die Europäer erzürnte weniger die dürftige Beweislage als die Eskalation des schwelenden Konflikts mit der Volksjamahirija, die die US-Administration heraufbeschwor. Frankreich, so sickerte später durch, wäre - Beweise hin oder her - für einen massiven Schlag, der das Gaddafi-Regime endgültig beseitigt hätte, durchaus zu haben gewesen. Mit Reagans Rambo-Aktion wollte Paris jedoch nichts zu tun haben und verweigerte deswegen den 24 US-Jagdbombern, die auf der südenglischen Basis Lakenheath gestartet waren, den Überflug. Die F-111 mußten den langen Weg um die iberische Halbinsel nehmen, was nur durch aufwendige Luftbetankungsmanöver über der offenen See möglich war. Wegen Großbritanniens Unterstützung für den US-Schlag bezeichnete der einstige Labour-Verteidigungsminister Denis Healey Premierministerin Margaret Thatcher als "Pétain im Petticoat"; Frankreich dagegen avancierte in den USA - neben Gaddafi - zum Haßobjekt Nummer zwei.

Die konservativ-liberale Regierungskoalition in Bonn war gespalten: Während sich Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit den Amtskollegen aus Paris und Rom einig war, daß durch den Militärschlag die Gefahr neuer Anschläge heraufbeschworen wurde, scharte CSU-Chef Franz Josef Strauß diejenigen um sich, die - komme, was da wolle - treu zum US-amerikanischen Verbündeten standen. "Man kann doch nicht alles laufenlassen", empfahl CSU-Landesgruppenchef Theodor Waigel die Anwendung pädagogischer Grundsätze des 19. auf die Außenpolitik des 20. Jahrhunderts. Bundeskanzler Helmut Kohl lavierte zwischen beiden Positionen: Bis zum vollbrachten Militärschlag warnte er die USA vor den möglichen Folgen, danach äußerte er "Verständnis für die getroffenen Maßnahmen". Doch in Europa wollte sich keine rechte Sympathie breitmachen für Reagans Politik der starken Hand. Im eigenen Land dagegen befand sich die Popularität des Präsidenten mit dem Nimbus des alternden Western-Schauspielers nach den Bombenangriffen auf dem Höhepunkt: 69 Prozent der Wähler hätten wenige Tage nach dem Angriff Reagan ihre Stimme gegeben.

Dabei war es nicht der Glaube an die Effektivität einer neuzeitlichen Kanonenboot-Politik, die die US-Wähler hinter ihrem Präsidenten vereinte: 40 Prozent der US-Amerikaner rechneten nach den Bomben von Tripolis eher mit einer Zunahme terroristischer Aktivitäten gegen US-Bürger. Tatsächlich folgte dem Angriff eine Welle von Anschlägen gegen US-Einrichtungen. Nur wenige Tage später explodierte in einem Luftfahrtbüro in Londons Innenstadt eine Bombe und verwüstete die Schalter von American Airlines, American Express und British Airways. Kurz darauf wurde auf dem Flughafen Heathrow in einer Maschine der israelischen Linie El Al ein Sprengsatz entdeckt, der über der irischen See zur Explosion gekommen wäre. Im Libanon ermordeten palästinensische Miliz-Angehörige, die wahrscheinlich der Gruppe um Abu Nidal angehörten, drei britische Geiseln. Und in Costa Ricas Hauptstadt San José wurden bei einem Handgranaten-Attentat auf das US-amerikanische Konsulat mehrere Passanten verletzt. In Europa gingen Urlaubsbuchungen aus den USA um mehr als 25 Prozent zurück; Italien, das als besonders gefährdet galt, verzeichnete kurzfristig einen Rückgang von fast 80 Prozent. Auch in den USA selbst häuften sich Bombendrohungen. Für US-Soldaten in aller Welt herrschte "Condition Red Curfew" - Alarmzustand Rot mit nächtlicher Ausgangssperre.

Doch das waren kleine Opfer im Vergleich zu dem politischen Ziel, das Reagan mit der Attacke erreicht hatte. Traditionelle europäische Diplomatie, die auf langwierige Verhandlungen und häufig vertrauliche Abmachungen setzt, paßte nicht ins populistische Konzept des Selbstdarstellers Reagan. Mit dem Milliardenprojekt SDI, das damals noch kein Milliardenflop war, hatte er sich angeschickt, den Weltraum zur US-amerikanischen Einflußzone zu machen. In Grenada und vor der nicaraguanischen Küste hatte er an jene glorreichen Zeiten angeknüpft, als es ausreichte, ein Schlachtschiff der USA vor der Hauptstadt vor Anker gehen zu lassen, um ganze Länder zur Räson zu bringen. Doch der Präventivschlag im eigenen Hinterhof reichte nicht aus, um der Nation, die immerhin ein Vietnam-Trauma zu verarbeiten hatte, die wiedererstarkte Weltgeltung der USA vor Augen zu führen. Ein Feind mußte her, ein richtiger Feind. In der Gorbatschow-Ära begann das Feindbild Moskau zu erodieren, wenig später sollte die Gorbi-Manie auch die USA erreichen.

Daß die Auswahl ausgerechnet auf den Libyer Gaddafi fiel, hatte mit dessen angeblichen und tatsächlichen Verbindungen zum "internationalen Terrorismus" relativ wenig zu tun. Der sonnengebräunte Maghrebinier war einfach der ideale Widerpart für den Peacemaker Reagan. Seine Vorliebe für Fantasie-Uniformen und ständig wechselnde Beduinen-Trachten schien derselben Scheinwelt entsprungen zu sein wie Reagans Kokettieren mit dem Mythos des unbesiegten Marshall aus dem Wilden Westen. Gaddafis Hang zur Selbstdarstellung erinnerte an die Dr. No und Blowfelds aus den James-Bond-Filmen.

Doch nicht nur stilistisch war Gaddafi genau die Unperson, die man suchte; auch politisch sprach vieles für ihn. Libyen war auch innerhalb der arabischen Welt einigermaßen isoliert, seine Ölreserven waren klein genug, um notfalls auf sie verzichten zu könenn, und groß genug, um zu demonstrieren, daß die USA nicht nur den strafen, der selbst nichts zu bieten hat. Die Europäer - vor allem Italien - hatten Gaddafi gegenüber eine Politik praktiziert, die derjenigen Reagans diametral entgegenstand. In langen Detailverhandlungen mit dem Revolutionsführer hatte Giulio Andreotti Detailfragen des Seerechts geklärt. Die Libyer ihrerseits kauften sich in den Fiat-Konzern ein, in dessen Verwaltungsgremien auch Vertreter der Jamahirija saßen. Eine Politik der starken Hand, wie sie Reagan - und nach ihm Bush und Clinton - befürworteten, war mit solchen Leuten nicht zu machen.

Der Militärschlag in der Nacht des 15. August war auch ein Signal an die Europäer: Er zwang sie, Partei zu ergreifen und führte letztlich zu einer Politik der klaren Abgrenzung. Auch wenn Andreotti betonte, "das Problem Libyen" sei nicht militärisch zu lösen: Spätestens, als am Tag nach dem US-amerikanischen Angriff vor der italienischen Insel Lampedusa zwei Libysche Scud-Raketen ins Meer fielen, die auf die dortige Nato-Basis gezielt hatten, waren die Italiener "in the boat". Und auch Frankreich sah in den folgenden Wochen Anlaß, seine Militäranlagen an der Mittelmeerküste zu verstärken.

So wurden "La Belle" und die Folgen zur Vorbedingung für die neue Rolle der USA als Weltpolizist, der imperiale Interessen auf allen Kontinenten mit moralischen Argumenten durchzusetzen versucht, und somit letztendlich auch für den Zweiten Golfkrieg. Und die Bombe in der Berliner Diskothek? Wenn wirklich libysche Agenten sie gelegt haben, dann gäbe es keinen besseren Beweis für die Dummheit ihres Führers als die Tatsache, daß Gerüchte nicht verstummen, denen zufolge US-Geheimdienste von den Attentatsvorbereitungen wußten, aber nichts unternahmen, weil ihnen die Explosion ins politische Kalkül paßte.