AG Öffentlichkeitsarbeit der Protest-Streik-Uni Gießen

Streiken. Was sonst!

Wer den Hochschul-Streik '97 verteidigt, könnte in der Diskussion leicht zwischen zwei Mühlsteine geraten - wenn die Hochschul- und Schulstreiks, die am 29. Oktober in Gießen ihren Anfang nahmen und sich seitdem über das ganze Bundesgebiet verbreitet haben, nicht eine derart explosive Dynamik entfesselt hätten. Die StreikgegnerInnen von der einen Seite werden nicht müde, die Aussichtslosigkeit des Streiks zu behaupten, fürchten wohl auch die Unordnung, die er mit sich bringen könnte und haben - berechtigte - Angst vor dem Verlust ihrer Seminarscheine fürs Wintersemester. Ihr logischer Schlußfolgerungsapparat sagt ihnen: Es gibt niemanden, dem ich mit meinem Streik einen Verdienstausfall verursache (außer mir selbst), also kann ich auch niemandem schaden (außer mir selbst), also ist dieser Streik als Mittel der politischen Auseinandersetzung sinnlos, da gibt es doch viel bessere Aktionsformen, wie Massenbriefe und sowasÖ

Dann gibt es auf der anderen Seite eine Gruppe von StreikgegnerInnen, die diejenigen, die seit langem gegen die Motivations- und Teilnahmslosigkeit der ersten Gruppe anredet, von hinten überrascht: Mit dieser Masse von apolitisch-egozentrischen Konsumkids sei überhaupt keine politische Arbeit möglich. Für deren Ziele auf die Straße zu gehen, halten die angestaubten Bereitschaftsrevoluzzer sowieso für unter ihrer Würde. Es gebe schließlich andere Aktionsformen: Wenn erstmal die Revolution losgeht, werdet ihr schon sehenÖ

Aber schon hier liegt ein fetter Irrtum vor. Streik in Schule oder Hochschule, das heißt der Boykott der Lernstoffannahme, an sich ist noch gar keine Aktionsform, sondern nur und allein der Rahmen für alle relevanten Aktionen. Und er ist ein ziemlich guter Rahmen, denn:

1. Streik macht Spaß. Nicht, weil der Streik eine einzige Mega-Party wäre: Im Streik findet gerade das statt, was BildungsreformerInnen einmal gefordert haben, um das Lernen neu und besser zu gestalten. Es finden sich spontan, aus Neigung und Begeisterung, Arbeits-(Projekt!!)Gruppen zusammen, die in kleinen Einheiten ihre Themen intensiv und umfassend bearbeiten, die ihrer basis-chaotischen Zusammensetzung gemäß grundsätzlich interdisziplinär, quer und über das Thema hinaus denken. Das Ergebnis, schon der Verlauf der Arbeit, bleiben aber nicht in der Kleingruppe, sondern werden in den Vollversammlungen, den Infocafés und abends in den Foyers der besetzten Häuser diskutiert, mit direktem Feedback. Das ist die Aufhebung gleichzeitig der Individualisierung und der Vermassung des Lehrbetriebs.

2. Streik ist ein Druckmittel. Auch wenn durch Streik an den Hochschulen auf den ersten Blick keine Kapitalinteressen gefährdet werden: Ein Blick auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Fernsehnachrichten zeigt, welches Gewicht das Thema Bildung - durch den Streik - erlangt hat. Spätestens dann, wenn wählende Eltern anfangen zu fragen, warum ihre Kinder denn so schlecht (aus-)gebildet werden, während sie selbst doch so viele Steuern zahlen, werden auch im Parlament mandatstragende Ärsche anfangen, unbequem hin- und herzurutschen. Wirklich erfolgversprechend Druck ausüben kann die Bewegung allerdings erst, wenn sie es schafft, hinter dem elfenbeinernen Tellerrand die anderen lobbylosen Gruppen von Leidtragenden eines ungleichen Verteilungskampfes zu sehen, natürliche Verbündete im Kampf gegen ein abgewirtschaftetes System.

3. Streik ist politisch - gerade für die unpolitischen Studis. Viele haben hier, abseits von der stumpfen Einöde des Pflichtprogramms, zum ersten Mal Gelegenheit, sich mit politischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Wer regiert diesen Staat wirklich? Wo ist das Geld, von dem die, die es haben, sagen, es sei nicht da? Und sie sehen, einmal Medienthema geworden, unmittelbar, wie das Herstellen von Nachrichten und Meinungen für die Masse funktioniert. Sie entwickeln kollektiv kritisches Bewußtsein. Sie werden auch nach einem Ende des Streiks nicht aufhören zu fragen. Diese Politisierung der Studis und SchülerInnen drinnen ist wichtiger als das Echo draußen. Egoismus ist nicht angeboren, Solidarität kann man lernen. Und was kann geschehen, wenn sich eine große Menge aufgeweckter Menschen ihrer Kraft bewußt wird? Eine Handvoll Leute bezeichnete man als Spinner, als sie mit nur zehn Tagen Vorbereitung 20 000 Menschen zur Demo gegen Sozialstaats- und Bildungsabbau nach Bonn holen wollten. Es wurden 40 000.

Von allerhöchster gesamtgesellschaftlicher Relevanz ist, daß dieser Streik zu einem Super-Blockseminar in angewandter, aktiver Demokratie wird. Da die Asten vielerorts die Entwicklung verschlafen oder sich bewußt zurückgehalten haben, sind die Vollversammlungen zu annähernd hierarchiefreien Hirnen der Bewegung geworden. Was die 97er-Streiks nicht haben, sind große ideologische Vordenker. Hier muß jedeR selbst denken, hier soll jedeR selbst reden. Die Diskussion ist eröffnet.

Bliebe, die existierenden Forderungspapiere der Studierenden so pressetauglich aufzubereiten, daß auch der/die daR (dümmsteR anzunehmendeR RedakteurIn) nicht übersehen kann, daß die Parole "Seminarleiter statt Eurofighter" nicht nur ein Schüttelreim ist, sondern daß da klar und deutlich Forderungen nach Grundsicherung drinstehen, nach Verteilungs- und Steuergerechtigkeit, nach mehr Demokratie und nach Abschaffung diskriminierender Ausländergesetze. Dann werden Kohl und Westerwelle nicht mehr vor Kameras entzückt über die Studis lächeln können, die super-systemkonform für ihre Leistungschancen protestieren.

Und bliebe schließlich, unter uns das ewige Rumgehacke darüber zu beenden, wer denn nun jetzt eigentlich wirklich links und antipatriarchal, und wer besser links und antiimperialistischer ist als alle anderen, und vor allem, wer die Judäische Volksfront ist - darüber geraten wir noch in Gefahr, die (Neo-) Römer aus dem Blick zu verlieren.