Brüderlich ins Wahljahr

Der SPD-Parteitag diente vor allem dem einen Ziel: Harmonie zu demonstrieren. Inhaltliche Positionen wurden deswegen ohne große Diskussion geändert

Mittwochmorgen, 9 Uhr, in der Straßenbahn auf den Weg zum Hannoveraner Parteitag der SPD: Delegierte, Funktionäre und Journalisten stehen sich auf den Füßen. Hier, wo die von Parteichef Oskar Lafontaine eindringlich geforderte Parteidisziplin nicht greift, geht es nicht um Sachfragen. Hier interessiert nur das eine Thema: Was läuft in der Beziehungskiste Schröder-Lafontaine? "Des hat ihm scho weh dan, daß'n d'r Oskar in seiner Eröffnungsred' überhaupt net erwähnt hat", mokiert sich eine Vertreterin mit schwäbischem Akzent. Ein Juso aus Nordrhein-Westfalen erinnert daran, daß das bislang nicht so üblich war bei sozialdemokratischen Parteitagen: Dem SPD-Ministerpräsidenten nicht zu danken für seine Gastfreundschaft.

Als wenige Stunden später in der riesigen Halle 2 des Messegeländes die Ergebnisse der Wahl zum Parteivorstand bekanntgegeben werden, erfährt der ehrgeizige Niedersachse seine Befriedigung: Minutenlangen Applaus spenden die Delegierten, als die Vorsitzende der Zählkommission nach kurzer Wirkungspause verkündet: "Gerhard Schröder: 342 Stimmen." Noch nie hat es der Niedersachse bislang geschafft, im ersten Wahlgang in den Vorstand gewählt zu werden. Das deutliche Ergebnis bestätigt ihm die Umfragen, denen zufolge die Mehrheit der SPD-Mitglieder ihn als den besseren Kanzlerkandidaten ansieht. Es tilgt auch die Schmach von Mannheim, wo Schröder vor zwei Jahren erst im zweiten Wahlgang und nachdem sich Oskar Lafontaine eigens für ihn stark gemacht hatte, in das Spitzengremium der Partei aufrücken konnte.

Immer wieder beschwört der Vorsitzende, der mit 93,2 Prozent in seinem Amt bestätigt wird, jenen Kongreß, wo er im November 1995 Rudolf Scharping vom Thron stieß. Wie seinerzeit im Kongreßzentrum Rosengarten reißt Lafontaine Delegierte mit einer Rede aus den Sesseln, die all die Dutzende anderer Redner - Schröder eingeschlossen - blaß erscheinen läßt. Doch anders als vor zwei Jahren bremst sich Lafontaine nun, die Disziplin, die er dem Parteivolk abverlangt, übt er auch selbst. Er versteht es, Begeisterung zu wecken, die aber nun - anders als in Mannheim - nicht mehr seiner Person gilt, sondern der SPD und deren wiedergefundener Einigkeit. Man hat wieder eine Vision, vermittelt Lafontaine dem Parteitag, auch wenn es nur die ist, binnen Jahresfrist in Bonn die Regierungsgewalt zu übernehmen. Programmatisch und wirtschaftspolitisch kompetent gibt sich der Vorsitzende in seiner Rede, ohne Schröder zu nahe zu treten: Auf den wirtschaftspolitischen Programmatiker der Partei läßt Lafontaine gerne den fahlen Glanz jenes Leitantrags "Innovationen für Deutschland" fallen, der in Wirklichkeit mit dem Vorsitzenden genau abgesprochen ist. Disziplin ist das inoffizielle Motto des Parteitags in Hannover.

Und nur Disziplin ist es auch, die die Auseinandersetzungen an der Parteispitze augenblicklich in den Hintergrund treten läßt. Eine Disziplin freilich, die von Lafontaine diktiert und dominiert wird. Immer wieder geht ein Raunen durch die Reihen der Delegierten wie der Journalisten, wenn der Vorsitzende die Rivalen mit kleinen Gesten in die Schranken weist. Die rosa Nelken für Scharping, der am ersten Tag des Parteitags 50 wird, geraten ebenso zur subtilen Demütigung wie das ausdrückliche Lob für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau, der der Sache diene, ohne "sich selbst in den Vordergrund zu schieben": Aller Augen ruhen auf Schröder.

Schröder und auch Scharping rächen sich auf ihre Weise: Indem sie die Aura, die Lafontaine um sich verbreitet, zwar nicht brüsk ablehnen, aber doch längst nicht so demonstrativ euphorisch reagieren wie die restlichen gut 500 Delegierten in Halle 2. Da gratuliert Scharping dem Nachfolger zur Wiederwahl erst, nachdem ihm fast der gesamte 37köpfige Parteivorstand die Aufwartung gemacht hat; Schröder verweigert als einziger auf dem Vorstandspodium den Applaus, als Lafontaine in seiner Eröffnungsrede ein donnerndes "Ja zum Euro!" ausruft. Es sind solcherlei Subtilitäten, an denen man die wahre Stimmungslage in der SPD zehn Monate vor der Bundestagswahl erkennen kann. Lafontaine läßt dem Rivalen Raum zur Profilierung, doch er macht auch ganz deutlich, wo die Grenzen sind. Schröder darf sich das Mäntelchen der wirtschaftspolitischen Kompetenz umhängen, aber gegen Positionen anrennen, die Lafontaine wichtig sind, darf er auf diesem Parteitag nicht mehr.

Während der kommenden Monate wird die SPD alles tun, um den schönen Schein der wiedergefundenen Harmonie - nicht nur zwischen Schröder und Lafontaine, sondern auch zwischen den verschiedenen Lagern der Partei - zu wahren. Bis zur Wahl, und womöglich darüber hinaus, gilt der auf dem Parteitag von Rednern aller sozialdemokratischen Couleur wiederholte Befund "Europa ist sozialdemokratisch geworden!" - und das heißt in diesen Tagen: In Deutschland muß das nur noch durch Wahlen bestätigt werden. Wenn man etwas an der euphorischen Oberfläche kratzt, kommt freilich schnell auch ein wenig Verzweiflung zum Vorschein: Wenn die SPD trotz der europaweiten Konjunktur der Sozialdemokratie am 27. September 1998 eine Niederlage erlebt, dann könnten die Wähler aufhören, sie überhaupt noch als politische Partei mit Regierungsanspruch wahrzunehmen. Trost kommt von den Altvordern: 15 Jahre werde es dauern, hatte Herbert Wehner 1982 den ungläubigen Genossen geweissagt, bis die SPD wieder an die Regierung kommen könne. Die 15 Jahre sind jetzt um, und die Partei hat keine Schwierigkeiten, Wehners pessimistisches Diktum zur optimistischen Prophezeiung umzumünzen.

Doch die Hochstimmung hat durchaus nicht die ganze Partei erfaßt. "Das ist ein schrecklicher Parteitag. Wir sind doch nur zum Abklatschen hier", klagt ein SPD-Linker am Rande des Parteitags. "Und noch schlimmer: Jetzt haben wir noch ein Vierteljahr der Lähmung vor uns." In der Tat weiß der rechte Flügel die Parteitagsdisziplin, die bestimmt, daß gefeiert wird und nicht gestritten, auszunützen. "Regierungsfähigkeit" heißt wieder einmal das Zauberwort, mit dem der Außenpolitiker Günter Verheugen die Zustimmung zur Militarisierung der Außenpolitik vorantreibt. "Einsätzen mit Erzwingungscharakter" will die SPD künftig auch dann zustimmen, wenn sie "gegen den Willen der Betroffenen" stattfinden. "Globale Entwicklungen lassen sich nicht mehr militärisch beantworten", hat Mitautor Rudolf Scharping noch am Tag vor der Verabschiedung des Antrags zur Sicherheitspolitik als Devise ausgegeben. Aber er hat angeschlossen: "Mannheim war der letzte Parteitag einer langjährigen Oppositionspartei, und Hannover war der erste Parteitag für eine langjährige Regierungsverantwortung der Sozialdemokratie."

Doch auch die Rechte muß bluten für die Harmonie. Noch vor dem Parteitag wurde der unter Federführung Schröders entstandene und innerparteilich stark umstrittene Leitantrag "Innovationen für Deutschland" in wesentlichen Punkten entschärft. Aus der Forderung nach "neuen Arbeitsplätzen mit niedrigen Stundenlöhnen" ist die nach "Lohnkostenzuschüssen" geworden, die "ein Mittel" seien, "um im Rahmen tariflich abgesicherter Arbeitsplätze neue Arbeit zu fördern". Flächentarifverträge, die Schröder zugunsten von "Handlungsspielräumen für die Betriebe durch differenzierte und flexible Vereinbarungen" öffnen wollte, sollen nun immerhin "auch in Zukunft Mindestbedingungen regeln, zum Beispiel bei Einkommen und Arbeitszeiten, die verbindlich gelten". Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist in dem Antrag ebenso neu wie die nach einer Abgabe für Unternehmen, die keine Lehrlinge ausbilden.

Den einzigen Punkt, bei dem noch einmal so richtig gestritten werden durfte, hat die Parteitagsregie auf einen Termin gelegt, zu dem mit geringstmöglicher Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu rechnen war: Am Mittwochabend gegen 23 Uhr, nach 14stündiger Sitzung und lang nach den Abendnachrichten und den Redaktionsschlüssen der Tagespresse, stimmen die Delegierten vor leeren Pressebänken über den Großen Lauschangriff ab. Die stundenlange Auseinandersetzung, die sich zunächst anzubahnen scheint - es haben sich etwa 20 Redner gemeldet - fällt dann allerdings doch recht kurz aus: Nachdem die um Fraktionschef Scharping und den früheren Grünenpolitiker und RAF-Anwalt Otto Schily versammelten Befürworter der "akustischen Wohnraumüberwachung" sich bereit erklären, einige Formulierungen aus Initiativanträgen der Gegner um den Münchener SPD-Linken Klaus Hahnzog zu übernehmen, kann das prinzipielle Ja zum Verwanzen von Wohnungen rasch mit großer Mehrheit verabschiedet werden. Lauschangriffe sollen nun nur von Obersten Landesgerichten angeordnet werden und "auf den kleinen Kreis hochkrimineller Straftaten, die zur Organisierten Kriminalität führen", beschränkt bleiben. Nicht abgehört werden dürfen nach SPD-Vorstellung solche Gespräche, die einer Schweigepflicht unterliegen: Die kirchliche Beichte sowie Arzt- und Anwaltsgespräche. Vertrauliche Gespräche etwa unter Ehepartnern oder mit Journalisten sollen dagegen belauscht werden dürfen.

Immerhin rechnen Insider damit, daß nach diesem Parteitagsbeschluß 60 bis 80 oder gar die Hälfte der 251 SPD-Abgeordneten im Bundestag dem Großen Lauschangriff nicht zustimmen werden. Der linke Parteiflügel hat bereits angekündigt, sich nicht an die Fraktionsdisziplin halten zu wollen. Daraufhin hat Fraktionsgeschäftsführer Peter Struck flink angekündigt, den Fraktionszwang in dieser Frage aufzuheben: Damit auch alles harmonisch bleibt.