Frösche ohne Köpfe

Der linke Technik-Horror hat mit Kapitalismuskritik nichts zu tun.

Frösche ohne Köpfe, Schafe ohne Väter, Tomaten, die nicht faulen - egal, welche neuen Forschungserfolge aus den Laboren gemeldet werden, sogleich scheint der Untergang des Abendlandes nahe. Dabei handelt es sich bei den Erzeugnissen der Genforschung in der überwiegenden Mehrheit um äußerst sinnvolle Lebewesen. Kopflose Kaulquappen sind weder Selbstzweck noch verantwortungslose Spielerei, sie sind ein kleiner Schritt auf dem Weg, die genetische Steuerung der Organentwicklung besser zu verstehen. Am Ende dieses Weges stehen vielleicht Methoden, amputierte Gliedmaßen nachwachsen zu lassen oder durch Krankheit zerstörte Organe nachzuzüchten.

Geklonte transgene Schafe oder andere Tiere ermöglichen es, auf elegante und enorm preiswerte Art und Weise, wichtige Arzneisubstanzen zu produzieren, wie beispielsweise die Substanz AAT. Rund 100 000 Menschen in Europa und den USA leiden unter angeborenem AAT-Mangel, weshalb ihre Lunge verschleimt und sie spätestens mit Ende zwanzig sterben. Trotz hoher Kosten von ca. 40 000 Mark pro Patient und Jahr kann nur etwa 30 Prozent von ihnen mit aus menschlichem Blutplasma gewonnenem AAT notdürftig versorgt werden. Gelingt es, das Schaf Tracey zu klonen, das mit jedem Liter Milch 35 Gramm AAT produziert, könnte ihnen geholfen werden.

Verbreitet ist eine diffuse fortschrittsfeindliche Haltung, die in stereotypen Glaubens- und Argumentationsmustern verfangen ist. Dazu gehört die Mißbrauchsprämisse. Man geht davon aus, wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Möglichkeiten würden zwangsläufig zum Mißbrauch führen. Deshalb wäre es besser, über das Wissen erst gar nicht zu verfügen. Beispiel: Wenn ein Schaf geklont wird, würden bald Heerscharen von Sklavenmenschen geklont und von den faschistischen Weltherrschern ausgebeutet. Oder - ein bißchen weniger überkandidelt - moderne Transplantationsmedizin führt dazu, daß skrupellose Ärzte mögliche Organspender, die noch gar nicht richtig tot sind, ausschlachten. In der Realität ist Mißbrauch aber erstens die Ausnahme und zweitens niemals Folge der Technik.

Zum festen Repertoire fortschrittsfeindlichen Denkens gehört auch die romantische (oft auch religiöse) Vorstellung von Natürlichkeit, die den Eingriff in die Natur als grundsätzlich problematisch betrachtet. Man geht davon aus, die Natur sei in statischen, harmonischen Einheiten (Ökosystemen) organisiert, die man ja nicht aus dem Gleichgewicht bringen dürfe, oder der Mensch sei eben von der Natur geschaffen, wie er ist. Doch wer glaubt, die biologische Ausstattung des Menschen müsse unantastbar sein, ist biologistisch im wahrsten Sinne. Gene sind nicht heilig. Sie sind Ergebnis der Evolution und stehen damit dem Menschen zur Disposition. Seit der Mensch Mensch ist, erhebt er sich über seine natürliche Bestimmung. Das unterscheidet ihn vom Tier. Die Natur ist keineswegs perfekt, sie macht eine Menge Fehler, die beispielsweise zu Erbkrankheiten führen. Diese Erbkrankheiten sind sinnlos, sie resultieren aus genetischen Defekten - Kopierfehler gewissermaßen. Wenn man Organdefekte schon auf der Ebene der Gene beheben könnte, bevor sie entstehen, wäre das ein großer Fortschritt.

Ein großer Irrtum ist es zu glauben, Fortschrittsfeindlichkeit habe irgend etwas mit Gesellschaftskritik zu tun. Obwohl sich viele gerne das Mäntelchen radikaler Kapitalismuskritik umhängen, zeigt sich darin nur Ignoranz und eine antihumanistische Geringschätzung der menschlichen Fähigkeit, diese Welt zu verstehen und zu gestalten. Mit Kapitalismuskritik hat Fortschrittsfeindlichkeit so wenig zu tun wie Fortschritt mit Kapitalismus.

Die kritische Haltung gegenüber destruktiven Aspekten der kapitalistischen Wirtschaft ist zu einen antihumanistischen Skeptizismus degeneriert, der Gesellschaftsanalyse durch jenes pessimistisches Geraune ersetzt, mit dem heute jede menschliche Tätigkeit als womögliche Bedrohung von Mutter Natur kommentiert, technischer Fortschritt mit Naturzerstörung und Krankheit in eins gesetzt wird. Dabei entfernt man sich immer weiter von der offensichtlichen Realität eines trotz Kapitalismus hohen Lebensstandards, einschließlich nie dagewesener Gesundheit, und noch weiter von der Möglichkeit, das menschliche Potential wirklich zu nutzen und eine bessere Gesellschaft zu entwickeln, in der die heutigen Beschränkungen nicht gefeiert, sondern überwunden werden. Viele, die sich selbst als kritisch verstehen, haben sich in der Sackgasse der Fortschrittsfeindlichkeit verrannt, wo sie langsam vergammeln, während "Krankheiten" wie Religiosität, zynische Verbitterung, Misanthropie, mystische Naturverehrung, Komplexitätsfetischismus, Paranoia (die bösen Konzerne wollen uns alle vergiften) sowie Überfunktion des Risikobewußtseins und der Präventionsdrüsen epidemisch werden. Die Folgen dieser Orientierungslosigkeit - defensive Tabuisierung bestimmter Themen, die Forderung nach staatlichen Forschungs- und Redeverboten - sind reaktionär. Nur die offene argumentative Auseinandersetzung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bringt uns weiter. Wer wissenschaftlichen Fortschritt stoppen will, setzt voraus, daß es gesellschaftlichen Fortschritt nicht geben kann.

Der Autor ist Wissenschaftsredakteur der in Frankfurt/Main erscheinenden Monatszeitschrift Novo.