Marxisten ohne Köpfe

Die linke Technik-Begeisterung hat mit Kapitalismuskritik nichts zu tun.

Natur gibt es nicht. Was es gibt, ist nur die Materie der Gesellschaft, das Material ihrer Produktion und Reproduktion. Dies reflektieren, mal in progressiver, mal in regressiver, aber in stets ideologischer Manier, der Fortschrittsenthusiasmus wie die romantische, oft genug deutschtümelnde Naturmetaphysik, denn beiden ist die gesellschaftliche Konstitution der Natur das Anathema.

Die Natur ist das Ding an sich der Gesellschaft; das Naturgesetz daher nicht ihr eigener, sondern ihr gesellschaftlicher Begriff. Diese Begriffslosigkeit ist die Bedingung der Möglichkeit des Zugriffs. Die Natur ist nicht intelligibel, weil sie sich nicht selbst gemacht hat und ihr kein Selbstbewußtsein eignet. Darum hat sie nichts Besseres verdient, als beherrscht zu werden. Herrschaft jedoch ist ebenfalls kein Begriff der Vernunft, sondern das gesellschaftliche Naturverhältnis selbst. Darin konfrontiert sich die zweite Natur der ersten. Der Begriff der Natur ist nur möglich als negativer, als Lehre von der "Naturbasis des Mehrwerts" (Marx), die darin besteht, daß nichts in der Natur der Natur ihre Ausbeutung durch den Menschen verhindert. So auch Naturerkenntnis: Die Naturgesetze, auch das vom freien Fall, sind objektiv, und sie sind es zugleich nicht, d.h. nichts als gesellschaftliche Projektionen, die in sich die Bedingungen ihrer Geltung aufheben und als Natur, als deren objektiver Selbstbegriff, sich darstellen. Die Naturwissenschaft - Erbin der Philosophie in der geistigen Reproduktion des sich selbst inaugurierenden lebendigen Gottes als der totalen Einheit von Genesis und Geltung - gibt so die paradoxe Ontologie der gesellschaftlichen Subjektivität. In den Naturwissenschaften erkennt die Gesellschaft nicht ihr Äußerliches, zu dem sie etwa ein instrumentelles Verhältnis etablieren könnte. Sondern sie streicht sich selbst durch und stellt sich als einen natürlichen Gegenstand vor: als zweite Natur, die die erste substituiert.

Ihre eigene Verdinglichung ist es, die die Gesellschaft an der Natur reflektiert. Wie kann es da sein, daß Naturerkenntnis - ganz im Gegensatz zu gesellschaftlicher Erkenntnis - als objektiv, neutral, unparteiisch gilt? Wie, daß Physik, Chemie, Biologie, daß, allen voran, die Mathematik, als Ausdruck von nichts als Logik anerkannt werden, deren Anwendung man im Einzelfall bestreiten mag, deren Prinzip jedoch allgemein Konsens findet? Denn darauf, daß zwei mal zwei vier ist, kann sich jeder Kommunist mit jedem Demokraten und jedem Faschisten einigen. Und wie schließlich, daß es in der bürgerlichen Gesellschaft mit den Naturwissenschaften eine Erkenntnisweise gibt, die so interessenentrückt wie klassenenthoben ist? Die als einzigen Konflikt den um ihre Anwendung läßt? Eine Erkenntnisweise, die ihre Genesis verschluckt und nun aus eigener selbstherrlicher Geltungsmacht operiert? Ein Bewußtsein, das im Prozeß seiner Produktion den Charakter völliger Bewußtlosigkeit erreicht hat? Die Geschichte der modernen Naturwissenschaften ist die Geschichte des Rückzugs der Subjektivität aus den von Natur daseienden Dingen, d.h. die Vernichtung des Schöpfergottes im Säurebad der Aufklärung. Woher bezieht die Logik ihre streitlose Geltung? Der Positivismus sagt, sie entspringe bloßer Konvention. Die Logik sei das Denkwerkzeug, das die Phänomene ordnet und stimmig macht, d.h. der Natur zum Begriff verhilft - aber warum genießt, was nur Konvention sein soll, absolute Geltung?

Hier tut sich, seit Marx, der blinde Fleck im kritischen Denken auf, der Mangel einer materialistischen Erkenntnistheorie, die die Formen und Methoden naturwissenschaftlichen Denkens ebenso aus der Vergesellschaftung ableiten könnte wie die Selbstnegation dieser Genesis. Alfred Sohn-Rethels Studien über den Zusammenhang von Warenform und Denkform jedenfalls demonstrieren, daß ein Marxismus, der sich in Soziologie und Geschichte erschöpft und dem in Sachen Naturerkenntnis nichts einfällt, außer hier Fortschritte aufzulisten und dort Mißbrauch zu beklagen, der Hegemonie des Kapitals unterliegen muß.

Daß die bürgerliche Gesellschaft in ihrem an Natur exekutierten, in Natur projizierten Selbstverständnis von nichts als Natur sich fraktioniert und in progressive Rationalisten und regressive Romantiker sich spaltet, daß sie sich in die Fraktion der kapitaldevoten Fortschrittsenthusiasten einerseits, in die der deutschtümelnden Naturekstaten andrerseits zerlegt, tut weiter nichts zur Sache. Die Natur ist das Ding an sich der Gesellschaft: Die Rationalisten, denen sie nichts als Material und Naturbasis bedeutet, tun ihr so Unrecht wie die Romantiker, die ihr "Ganzheitlichkeit" und Subjektivität angeheimnissen. Beides betrügt die Natur um ihre kommunistische Brauchbarkeit. Den linken Parteigängern des Fortschritts möchte man raten, den Marx beiseitezulegen und das Studium der Gentechnik aufzunehmen: Dies ist der schnellere Weg in ihre schöne neue Welt.

Der Autor arbeitet in der "Initiative Sozialistisches Forum" in Freiburg/Brsg.