Knockin’ On Heaven’s Door

B. K. Tragelehn inszeniert das "Leben des Galilei" am Berliner Ensemble

Gewiß, die Erde ist keine Scheibe, aber: Bewegt sie sich nun, oder bewegt sie sich nicht? Und wenn ja, wer würde was dabei verlieren, sollte sie sich wirklich um die Sonne drehen? Kopernikus hat es geahnt, Giordano Bruno konnte es nicht beweisen und wurde dafür auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Galileo Galilei wußte es besser und lavierte sich noch gerade so um Hinrichtung und anderes Heldentum herum. Der italienische Mathematiker und Physiker, geboren 1564 in Pisa, gestorben 1642 nahe Florenz, gilt als Begründer der modernen Naturwissenschaften. Denn er machte das Experiment als Beweismittel salonfähig und etablierte es als grundlegende wissenschaftliche Kategorie. Galilei entwickelte das Fernrohr, beobachtete die Planeten und konnte als erster belegen, daß sich die Erde unbestreitbar um die Sonne dreht. Das hat ihm die katholische Kirche, die damit das Universum entweiht, Gott entthront und sich selbst als Machthaberin ausgetrickst sah, lange nicht verziehen. Galilei kam vor ein Inquisitionsgericht, widerrief öffentlich seine Lehre und überlebte. Elf Jahre, bis zum Tod, stand er unter Hausarrest und forschte heimlich weiter. Seine Rehabilitierung durch die katholische Kirche erfolgte tatsächlich erst im Jahre 1992.

"Leben des Galilei" ist Bertolt Brechts "Falstaff", nur ernster: Ein populäres Volksstück mit Paraderollen, im Mittelpunkt ein sinnenfreudiger korpulenter Mann in den besten Jahren, der die Klappe nicht halten kann und nicht halten will. Es entsteht 1938/39 im dänischen Exil. Kurz danach gelingt dem Physiker Otto Hahn die Spaltung des Uran-Atoms. Ab 1944 erarbeitete Brecht in Hollywood mit dem Schauspieler Charles Laughton eine neue Fassung. Zu der Zeit werden Hiroshima und Nagasaki durch die ersten Atombomben ausgelöscht. Nach dem Studium der Protokolle des Oppenheimer-Prozesses und nach dem 17.Juni 1953 schreibt er die letzte Version für seine Inszenierung am Berliner Ensemble, die er jedoch nicht mehr beendet.

B.K. Tragelehn, an der damaligen Aufführung als Regieassistent beteiligt, inszeniert am Berliner Ensemble nun selbst das "Leben des Galilei". Ein komplexes Stück, eine wuchtige Tradition, dazu der persönliche Bezug, Brecht im Genick; aber Tragelehn ignoriert den ganzen Ballast der Entstehungs- und Aufführungsgeschichte, kümmert sich weder um Galilei als Galionsfigur des sozialistischen Fortschritts und der proletarischen Welterlösung noch um Galilei als positivistisches Zukunftsgroupie und kritischen "Querdenker" westlicher Stirnfaltung.

Auf gut zweieinhalb Stunden komprimiert die rigide Strichfassung Brechts episches Denksport-Drama. Tragelehn inszeniert es mit äußerster Sparsamkeit: Der Staub ist weg, der Bart ab. Die Bühne (Hans-Joachim Schlieker), bis zu den Brandwänden aufgerissen, ist, von einem Dutzend heller Holzstühle abgesehen, leer. Ein schmaler weißer Strich durch die Mitte und übers Portal teilt den Wartesaal der neuen Zeit in zwei Hälften. Ringsherum ist ein telegrammartiges Schriftband angebracht, eine Nachricht von Heiner Müller, der es inzwischen ja wissen muß: "+ dunkel, genossen, ist der weltraum, sehr dunkel +". Der Zuschauerraum wiederum ist bis zur Pause so hell wie die Bühne.

Als dann Galilei in die Hände der Inquisition gerät, wird's über dem Publikum dunkel, vorne theatralisch schattig. Das Fernrohr bleibt ein blendender Lichtkegel aus der Höhe, unter dem sich die Betrachter augenreibend krümmen: "Was du siehst, ist, daß es keinen Unterschied zwischen Himmel und Erde gibt. Heute ist der 10. Januar 1610. Der Papst schreibt in sein Tagebuch: Himmel abgeschafft." Wie Galilei den Kosmos, entkleidet Tragelehn den Galilei. Er zieht ihn wirklich bis auf die Haut aus. Am Anfang kommt Galilei im grünen Bademantel auf die Bühne, legt ab, duscht. Dann schlüpft er in die Uniform des freisinnigen Intellektuellen, schwarze Jeans und Leinenjackett.

Galilei ist ein übergewichtiger Dutzendmann mit schütterem Haar. Der Schauspieler Josef Bierbichler gibt ihm gekonnt verschwommene Konturen und eine abwesend wirkende, monotone Stimme. Wenn er allein über seinen Papieren sitzt, fällt er nicht weiter auf. Galilei wird erst unübersehbar, wenn er spricht: "Den gefeiertsten Wahrheiten wird auf die Schulter geklopft; was nie bezweifelt wurde, das wird jetzt bezweifelt." Oder: "Macht man den Strick uns ums Genick nicht dick, dann reißt er!" Bierbichler ist das Zentrum dieser Aufführung, aber er spielt sich nicht zum Sprachrohr ewiger Weisheiten auf. Beiläufig rutschen ihm die großen Sätze über die Lippen, en passant spuckt er die ketzerischen Wahrheiten aus.

Im Grunde hat Tragelehn eine klassische Rede- und Rumsteh-Inszenierung abgeliefert, was man ihm übel nehmen würde, hätte er nicht den "Galilei"-Text und Bierbichler auf der Haben-Seite. Und hätte er nicht, in einer hellsichtig dazu erfundenen Rolle, den kleinwüchsigen Darsteller Karl-Heinz Tittelbach in das Stück integriert. Tittelbach verkörpert in dieser Inszenierung den Wahrnehmungsschock, den Galilei seinen Zeitgenossen bereitete.

Das nachsichtige Lachen über die verlogenen Kirchenleute und Wissenschaftler, die Angst haben, daß ihnen der Himmel auf den Kopf und die Macht aus den Händen fällt, wenn sie die Perspektive ändern, wird wirkungsvoll gestört. Erst erzählt Tittelbach etwas aus seinem Leben - "Bis zu meiner Geburt war ich ein Kind der Liebe" -, dann sagt er die Zwischentitel für die nächste Szene an: "Die Pest". Es sind kleine Geschichten, so ohne Moral, wie Brecht ursprünglich seinen "Galilei" schreiben wollte. Plötzlich ist alles, was der aufgeklärte Steuerbürger heutzutage bereitwillig abnickt - die Erde ist keine Scheibe, alle Menschen sind gleich, Wissenschaft ist Dienstleistung -, wieder mehr als bloß eine Standort-Frage. "Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern", zitiert Tittelbach Brecht, und schließt nahtlos mit Erfahrungen aus dem Leben des Kleinwüchsigen an - gut 350 Jahre nach dem Anbruch der von Galilei verkündeten neuen Normalzeit: Wie er Passanten bitten muß, sein Geld in den Fahrkartenautomaten zu werfen, weil er nicht bis zum Schlitz gelangt. Daß er sich auch vor großen Hunden nicht fürchtet, obwohl die ihn gelegentlich bespringen, weshalb ihn ihre Besitzer bedrohen. So setzt er das Normale, das für ihn nie gegolten hat, außer Kraft.

Nichts anderes macht Galilei. In einer leichthändig umgesetzten Ästhetik der Reduktion realisiert Tragelehn die Tumulte und unerwünschten Strapazen des Paradigmenwechsels und sperrt den Heutigen den Notausgang zu. So werden die blinden Flecken im kollektiven Wahrnehmungsspektrum des 17. Jahrhunderts zur aktuellen Irritation. Galilei ist in die Gegenwart zurückgekehrt: "Willkommen in der Gosse, Bruder in der Wissenschaft und Vetter im Verrat!" Wenige Meter entfernt bestreikt derzeit der akademische Nachwuchs die Humboldt-Universität, worauf ein Flugblatt im Damen-WC verweist: "Freier Zugang zu den Hochschulen für alle", "Das Geld ist ungerecht verteilt", und daß es den Studierenden "nicht in erster Linie darum" geht, "eigene Rechte zu sichern, sondern allgemein um eine nicht markt-, sondern menschengerechte Politik".

In einer von Brecht ursprünglich konzipierten, später verworfenen Szene (veröffentlicht 1957 im Heft 15 der "Versuche"), die jetzt an das Ende des Stückes gestellt ist, liest die Tochter dem fast blinden Galilei aus Montaignes Schriften vor: "Sei weise mit Maß, daß du nicht verderbest." Galilei: "Weiter".

Bertolt Brecht: Leben des Galilei. R: B.K. Tragelehn. B: Hans-Joachim Schlieker. K: Barbara Naujoks. D: Josef Bierbichler, Karl-Heinz Tittelbach, Armin Dillenberger, Christine Gloger, Annemone Haase, Klara Höfels, Jörg Michael Koerbl, Mira Partecke, Thomas Stecher, Thomas Wendrich u.v.a. Berliner Ensemble, Bertolt Brecht Platz 1. Nächste Vorstellung: 22. Dezember