Kickers Narrenfreiheit

Selbst der schottische Fußballverband hat langsam genug von Paul Gascoigne

In einer Woche, wenn der britische Fußballer Paul Gascoigne von seiner Frau, die er in der Vergangenheit häufig mißhandelt hat, die Scheidungspapiere überreicht bekommen hat und seine Eskapaden auf dem Spielfeld wieder für Aufruhr sorgen, wird es für die Öffentlichkeit wohl immer schwieriger, ihren Liebling hochleben zu lassen.

Als Paul Gascoigne, allseits bekannt unter dem Spitznamen Gazza, im Sommer 1995 einen Vertrag beim schottischen Erstligisten Glasgow Rangers unterschrieb, waren es erwartungsgemäß die Fans des Erzrivalen Glasgow Celtic, die versuchten, dem eingewanderten Engländer das Leben schwer zu machen. Beim ersten sogenannten Old Firm-Spiel zwischen den beiden Vereinen wurde der mit deutlichem Übergewicht spielende "Gazza" neunzig Minuten lang von den gegnerischen Fans mit Mars-Riegeln beworfen. Die Rangers Fans dagegen schlossen Gazza sofort ins Herz. Der dicke Mann mit den blond gefärbten Haaren löste unter ihnen eine regelrechte "Gazzamania" aus. In dieser Zeit stieg die Zahl der blondierten Anhänger stetig in und um Ibrox Park, dem Rangers-Stadion. Gazza, von dieser grenzenlosen Anbetung überwältigt, arbeitete stark daran, sich so schnell wie möglich seiner neuen Umgebung anzupassen. Nach seinem ersten Tor für die Rangers, am 31. Oktober 1995 in einem Heimspiel gegen Steau Bukarest, ahmte Gazza einen Flötisten in einer protestantischen Marschtruppe nach. Diese Geste war von höchster Symbolik, gerade in einer Stadt wie Glasgow, in der die konfessionelle Zugehörigkeit eng mit dem Fußball verbunden ist und in der die sektiererische Spannung allgegenwärtig ist. Gazza bewies damit, daß er genau wußte, welche Bedeutung ein Rangers-Spieler innehat. Trotz heftiger Kritik in der Öffentlichkeit sprach der schottische Fußballverband SFA weder eine Ermahnung aus noch erteilte er dem als exzentrisch geltenden Fußballstar eine Geldstrafe - die Rangers waren schließlich zum siebten Mal in Folge Meister der schottischen Liga geworden.

Ein Jahr später war dann wohl die Zeit reif für einen intimeren Blick in das Leben des begabtesten englischen Fußballers dieser Generation. "George Best minus das Gehirn" (George Best war die Fußballegende der sechziger Jahre), nannte ihn der Präsident von Gascoignes ehemaligem Klub Newcastle United.

Ein Film über das mißverstandene Fußballgenie und seine Rückkehr aus Italien wurde von seinem Manager schnell auf den Markt gebracht. Der pseudo-dokumentaristische Streifen trug den einfallsreichen Titel "Schnell! Versteckt euch, Gazza kehrt zurück nach Hause". Die erste Szene dieses Machwerks zeigt ein Flugzeug, das in der Abenddämmerung Richtung Großbritannien fliegt, die Kamera schwenkt auf den Helden, welcher nachdenkend im Flieger sitzt, und zoomt schließlich auf seine tiefblauen Augen. Diese Augen leuchten, aber der Blick ist leer. Langsam vergrößert sich der Bildausschnitt und ein kaum wahrnehmbares Lachen erscheint auf Gazzas Gesicht. Um ihn herum liegen besoffene englische Nationalspieler, kaputtes Inventar und zerstörte Möbel. Gazza trägt eine Frauenbrust aus Kunststoff. Im Geordie genannten Newcastle-Dialekt verkündet er: "Ee up, ah'm reeght blathered now" (Jetzt bin ich richtig besoffen). "Noch zehn Minuten bis zur Landung", ertönt die Ansage des Flugkapitäns. Die Kamera schwenkt nach links. Einige andere Fluggäste, Mitglieder des militant-protestantischen Oranier-Ordens, mit Melonen und orangenen Schärpen bekleidet, begrüßen einander mit dem Händeschütteln der Freimaurer. "Das war es, o mächtiger Zauberer", sagt eine Stimme, "wir verpflichten Gascoigne im Namen Gottes, für den Erhalt des Königreichs und zum Schutze unseres bedrohten Lebensstils." Die Kamera schwenkt auf Gazza, der ein Glasgow Rangers-Trikot trägt und wieder eine imaginäre Flöte spielt. Der Off-Kommentator verkündet: "Der Konfessionalismus zeigt wieder sein böses Gesicht."

Unterstützung für sein provokantes Verhalten erhielt Gazza einzig von dem bekannten Fernsehkommentator Harold Jakobsen: "Alle lieben ihn, weil er das macht, was Männer ohne Uniabschluß eben machen." Der Film zeigt folgerichtig eine ganze Reihe von berühmten Aktionen Gascoignes, die laut Jakobsens Vorstellung allesamt dem Verhalten von Männern aus der Unterklasse entsprechen: Das Rülpsen vor italienischen Journalisten etwa, die Botschaft an das norwegische Volk ("Fuck Off"), den tränenüberströmten Gazza nach der Verwarnung im Halbfinale der WM 1990 in Italien gegen Westdeutschland, eine ziemlich harte Kopfnuß gegen einen schottischen Spieler und das Geständnis des Spielers, die Freundin vor zwei Jahren zusammengeschlagen zu haben. "Wunderbar", tönt es aus dem Off.

In der zweiten Hälfte des Werkes wird der große Mann in einem enthüllenden Interview präsentiert: "Die Medien zu verstehen, ist ein Teil meiner Arbeit. Meiner Meinung nach sind das alles Bastarde. Was haben sie schon für eine Bedeutung, eh? Es ist die Nemesis von Kreativität, wenn du mich fragst... weißt du, was ich meine? Es verschafft eine andere Art von Blindheit, oder? Ja. Fuck Off!" Nach dieser tiefgreifenden Analyse seiner Beziehung zur gelegentlich auch über ihn kritisch berichtenden Presse zeigt der Film eine Frauengruppe, die sich mit dem Thema "Ist das Schlagen von Frauen für einen kreativen Mittelfeldspieler nicht doch ein Akt der Selbstzerstörung?" auseinandersetzt. Viele der teilnehmenden Frauen betonen, daß dies nicht nur ganz klar der Fall sei, sondern gleichzeitig auch ein Hilferuf des Mannes. Im selben Atemzug wird erklärt, daß die Interessen der Mannschaft stets Vorrang haben. Einige Männer aus der Mittelschicht setzen sich schließlich zu den Frauen und erläutern, daß in der Kultur der Arbeiterklasse alle Untugenden vergeben werden, wenn der Mann ein Dribbelkünstler ist und Tore schießen kann.

Zurück zur Realität: Oktober 1996. Gazza ist seit 14 Wochen mit Cheryl S. verheiratet. Die Boulevardzeitung Daily Mirror veröffentlicht eine Reihe von autorisierten Bildern, die Cheryl mit drei gebrochenen Fingern und Gesichtsprellungen zeigen. Außer den Herausgebern des Rangers-Fanzines Follow, Follow stehen alle Fans hinter ihrem Helden. Der Vizepräsident der Rangers, Donald Findlay, erklärt die Position seines Vereins zu Gazzas Gewalttat kurz und bündig mit "Wir mischen uns nicht in das Privatleben unserer Spieler ein". Beim nächsten Auswärtsspiel gegen den FC Aberdeen zeigen alle "Dons" genannten Aberdeen-Fans rote Karten, um gegen das Verhalten Gascoignes zu demonstrieren - trotz alledem bleibt Gazza Stammspieler in der Nationalmannschaft. Und änderte sein Verhalten nicht: Im März 1997 schlug Paul Gascoigne, als er gerade angetrunken einen Londoner Nachtlokal verließ, völlig grundlos einer Frau ins Gesicht. Er verteidigte seine Aktion mit den Worten: "Ich habe nichts getan. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich diese Frau angegriffen habe."

Am 7. Januar dieses Jahres schließlich beantragte seine inzwischen von ihm getrennt lebende Frau die Scheidung. In einem Interview mit der Boulevardzeitung The Sun schildert Gazza, wie sehr ihn das Auseinanderbrechen seiner Ehe berührt: "Wir werden uns scheiden lassen. Sie hat die Papiere eingereicht. Ich fühle mich toll."

In Sachen Fußball hat er hingegen zur Zeit kaum Grund, sich so prächtig zu fühlen. Beim Neujahrsspiel gegen Glasgow Celtic wurde Gazza nach dem 0:2 Rückstand in der 78. Minute eingewechselt. Die Celtic-Fans begrüßten ihn mit dem Sprechchor: "Frauenschläger! Frauenschläger!" Er kannte nur eine Antwort: Wieder spielte er die imaginäre Flöte. Diesmal wurde seine Provokation allerdings von Fernsehkameras aufgezeichnet. Der Trainer der Rangers, Walter Smith, mußte angesichts der großen öffentlichen Empörung nun Maßnahmen treffen und tat dies auch, wenn auch erkennbar widerwillig. Gascoigne wurde eine Geldstrafe von umgerechnet 100 000 Mark auferlegt - zahlbar an den Verein. Der Präsident des schottische Fußballverband, Jim Farry, kündigte darüber hinaus an, sein Verband werde künftig bei jedem Fehlverhalten des Spielers Gascoigne Maßnahmen ergreifen, um Gazza endlich unter Kontrolle zu bringen. Abseits des Spielfeldes genießt Gazza allerdings wohl immer noch Narrenfreiheit.