Koordinierte Abschottung

Im Schengenland setzt Deutschland die Standards

Schengen ist ein kleiner Ort in Luxemburg. Seit dort im Jahre 1985 die Bundesrepublik, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg beschlossen, die Kontrollen an ihren Binnengrenzen abzubauen und dafür die Grenzen zu den anderen Nachbarn umso strikter gegen Flüchtlinge und vermeintliche oder tatsächliche Verbrecher abzuriegeln, steht Schengen für hermetische Grenzsicherung, für die "Festung Europa".

Das Schengener Abkommen trat am 26. März 1995 in den fünf Gründerstaaten sowie Spanien und Portugal in Kraft. Italien und Österreich haben am 1. Januar 1998 begonnen, die Kontrollen an ihren Grenzen zu den anderen Schengen-Staaten abzubauen. Voll teilnehmen sollen sie nach den bisherigen Plänen ab 1. April 1998. Infolge der Flüchtlingsbewegungen nach Italien haben aber Österreich und Frankreich ihre Kontrollen an Grenzen zu Italien - auch ein solcher Schritt ist in der Durchführungsübereinkommen vorgesehen - wieder aufgenommen. Griechenland, Schweden, Finnland und Dänemark sind zwar Mitglieder des Abkommens, haben es aber noch nicht in Kraft gesetzt. Herz und Kern des Schengener Abkommens sind weniger die fast europaweite Reisefreiheit ohne Kontrollen als vielmehr diverse "Ausgleichsmaßnahmen" für den Kontrollabbau. Diese wurden 1990 im "Schengener Durchführungsübereinkommen" (SDÜ) vereinbart.

Als Legitimation für die "Ausgleichsmaßnahmen" dienen die von Sicherheitspolitikern derzeit als Hauptbedrohungen der Inneren Sicherheit beschworene illegale Einwanderung, die "Organisierte Kriminalität" und der Drogenhandel. Diesen vermeintlichen Gefahren begegnen die Schengen-Staaten mit scharfen Kontrollen an den Außengrenzen, gemeinsamen Asylregelungen und einer engen grenzüberschreitenden Polizeikooperation. Restriktive Visaregelungen führen dazu, daß nur sehr begrenzt Menschen aus anderen Teilen der Welt in das Schengener Vertragsgebiet einreisen können. Festgelegt ist ein gemeinsamer Standard der Außengrenzkontrollen. Vorreiter ist dabei die BRD. Ihre Außengrenzen, insbesondere die deutsch-polnische und die deutsch-tschechische Grenze, werden mit einem massiven Einsatz von Bundesgrenzschutz (BGS), bayerischer Polizei, Zoll und moderner Technik gesichert. Über 10 000 PolizistInnen und Zollbeamte stehen an den deutschen Ostgrenzen - Tendenz steigend. "Eine höhere Polizeidichte besteht an keiner anderen Grenze in Europa", erklärte Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) stolz. An den offiziellen Grenzübergängen und auf den Flughäfen werden die Reisenden sortiert in BürgerInnen der EU und Drittstaatenangehörige. Letztere werden peinlich genau kontrolliert. Stichproben werden jedoch auch bei den EU-Staatsangehörigen gemacht. Da trifft es insbesondere Menschen, die nicht dem Aussehen mitteleuropäischer DurchschnittsbürgerInnen entsprechen, und die deshalb grundsätzlich verdächtig sind, illegal einwandern zu wollen, Drogen zu dealen oder sonstige Missetaten aus dem Katalog der "Organisierten Kriminalität" zu planen. Genauso rassistisch ist die vom Bundesgrenzschutz und den Länderpolizeien vorgenommene Auswahl der Kontrollierten innerhalb des 30 Kilometer tiefen Raums längs der Grenzen zu den Schengen-Staaten, in den die Überwachung der Grenzen in Form eines "Sicherheitssschleiers" nach dem Abbau der Grenzkontrollen verlagert wurde.

Im asylrechtlichen Teil des SDÜ haben sich die Vertragspartner geeinigt, daß AsylbewerberInnen nur noch in einem Schengenstaat einen Asylantrag stellen dürfen. Die anderen Mitgliedsstaaten erkennen die Entscheidung des verfahrensabwickelnden Staates an. Verbindungsbeamte der Schengen-Staaten regeln untereinander die Zuständigkeiten in strittigen Fällen. Im September 1997 wurde dieser Teil des Schengener Abkommens durch die im wesentlichen gleichlautende Dubliner Asylkonvention der EU-Staaten abgelöst. Die Bundesregierung war bislang nach eigenen Angaben "zufrieden" mit der Asylzusammenarbeit im Rahmen des Schengener Abkommens. 1996 hat es in der BRD 4 944 "Schengen-Fälle" gegeben. Von diesen knapp 5 000 Fällen haben die anderen Schengen-Staaten, allen voran Frankreich und die Niederlande 2641 Übernahmeersuchen an die BRD gerichtet, 769 Menschen sind tatsächlich gekommen. Die Bundesregierung hat 1 330 Übernahmeanträge gestellt, 713 Menschen mußten die Bundesrepublik auf diesem Weg verlassen.

Das Schengener Abkommen ist das erste multilaterale Abkommen, das die Zusammenarbeit im Polizeibereich regelt und den Mitgliedsstaaten dabei Einschränkungen eigener nationaler Souveränitätsrechte abverlangt. So ist es den Polizeibeamten der Schengen-Staaten gestattet, die Binnengrenzen des Schengen-Raums zu überschreiten, während sie verdächtige Personen verfolgen. Der Radius dieser "polizeilichen Nacheile" und die Befugnisse der PolizistInnen auf dem Hoheitsgebiet der benachbarten Schengenländer regeln zusätzliche bilaterale Polizeiabkommen. Die BRD hat bereits entsprechende Vereinbarungen mit Frankreich (7. Dezember 1995), Luxemburg (24. Oktober 1995) und den Niederlanden (17. April 1996) getroffen. Die Polizeikooperation macht an den Außengrenzen Schengens nicht halt. Die BRD hat mit Polen im April 1995 ein Abkommen über die Zusammenarbeit der Polizei- und der Grenzschutzbehörden abgeschlossen, eine entsprechende Vereinbarung mit der Tschechischen Republik ist in Vorbereitung. Und auch mit der Schweiz führt die BRD Verhandlungen über die Errichtung eines Sicherheitssystems an den gemeinsamen Grenzen.

Rückgrat des Schengener Abkommens ist das "Schengener Informationssystem" (SIS), ein Computernetz zur Fahndung nach Personen und Sachen. Jeder Staat speist die Daten verdächtiger StraftäterInnen, abgelehnter AsylbeweberInnen oder zur Einreiseverweigerung ausgeschriebene AusländerInnen in den Zentralrechner in Straßburg ein. Auch gesuchte Gegenstände wie Waffen, Kraftfahrzeuge, Banknoten, Identitäts- und Blankopapiere werden hier registriert. Das zentrale SIS leitet diese Daten dann an die nationalen SIS weiter, die dafür Sorge tragen, daß sie in den mehr als 30 000 Computerterminals an den Außengrenzen von Schengen-Land verfügbar sind. Alleine 9 000 dieser Geräte stehen in Deutschland. Im März 1997 enthielt das SIS nach einem Bericht des Bundesinnenministeriums 4,6 Millionen Datensätze gegenüber vier Millionen 1995. Davon hat alleine die BRD 2,6 Millionen geladen, rund 56,5 Prozent. Im Jahr davor betrug der Anteil der von der Bundesrepublik eingespeisten Datensätze noch 62,5 Prozent. Den steigenden Nutzungsgrad des SIS durch die anderen Schengen-Staaten benotet Bundesinnenminister Kanther deshalb mit "zufriedenstellend", während er sich 1996 noch unzufrieden mit seinen Kollegen zeigte. 1996 wurden nach Angaben Kanthers 8 793 "Treffer" aufgrund deutscher Ausschreibungen im Ausland und 1 557 in Deutschland aufgrund von SIS-Meldungen von anderen Schengen-Ländern erzielt. Die zum Zugriff auf den SIS-Datenbestand berechtigten deutschen Behörden fragen den Datenbestand alleine vier Millionen Mal monatlich ab. SIS ist ein entscheidendes Instrument der Schengen-Staaten in ihrem gemeinsamen Bemühen um die Abwehr von Flüchtlingen und MigrantInnen. Zwischen dem Inkrafttreten von Schengen und dem 1. Januar 1996 wurde rund 18 500 AusländerInnen aufgrund von "Treffern" im SIS die Einreise in ein Schengenland verweigert oder sie wurden ausgewiesen.

Das Schengener Abkommen ist das Modellprojekt für die innen- und rechtspolitische Zusammenarbeit in Europa. Es ist auf Betreiben der deutschen und der französischen Regierung geschlossen worden, und beide Regierungen geben weiter Richtung und Takt der Entwicklung vor, ohne daß die nationalen Parlamente oder die europäische Volksvertretung informiert oder beteiligt worden wären. Die nach Abschluß des Schengener Abkommens hinzugekommenen Staaten hatten nicht einmal die Möglichkeit, auf die inhaltliche Ausgestaltung des Abkommens und seine Umsetzung Einfluß zu nehmen. Voraussetzung für ihren Beitritt war, daß sie den "Schengen Acquis" - den Schengen-Besitzstand - vollständig übernehmen. Bis sie tatsächlich an Schengen teilnehmen dürfen, müssen sie ihre Außengrenzkontrollen perfektionieren. Italien und Österreich sind bis zum 1. April 1998 unter den Augen eines trilateralen Kontrollgremiums mit Beteiligung der Deutschen gefordert, ihre Grenzen nach Osten, Richtung Albanien und Türkei besser insbesondere gegen Flüchtlinge abdichten. Dabei helfen in beiden Ländern militärische Einheiten aus, in Italien offenkundig nicht mit dem von den Deutschen gewünschten Erfolg.

Schengen ist Prototyp für ein "Kerneuropa", wie es der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Wolfgang Schäuble 1994 gefordert hatte. Die wirtschaftlich mächtigen Staaten geben die Geschwindigkeit und Richtung der Integration vor, die anderen haben nur die Möglichkeit hinterherzuhecheln, oder sie werden abgehängt. Auf dem letzten Gipfel der Europäischen Union in Amsterdam im Juni 1997 haben die Regierungschefs vereinbart, das Schengener Abkommen in die EU zu überführen und zu integrieren. Deshalb steht das Übereinkommen nur Mitgliedern der EU offen. So können die Kern-Staaten des Abkommens weiterhin bestimmen, wer in vollem Umfang an Schengen teilnehmen darf. Nachzügler müssen den Schengen-Aquis unverändert übernehmen, eine parlamentarische oder gar öffentliche Kontrolle der Schengen-Zusammenarbeit findet weiterhin nicht statt. Großbritannien und Irland ermöglichen solche Opting-out-Klauseln, ihre Grenzkontrollen auch im Binnenverkehr mit den anderen EU-Staaten entgegen den Vereinbarungen von Schengen aufrechtzuerhalten und dennoch Zugriff auf das SIS zu erhalten.

Der Fahndungs- und Flüchtlingsabwehrraum Europa wächst zusammen und perfektioniert sich. Die in Deutschland tief verankerte Staatssicherheitsphilosophie, derzufolge jede Person grundsätzlich verdächtig ist, wird zum europäischen Standard. "Der Mensch wird zum Sicherheitsrisiko, die staatliche Sicherheit zum Supergrundrecht" (Rolf Gössner).