Zwischen Medizin und Eugenik

Ärztevertreter fordern ein generelles Verbot von Abtreibungen nach der 20. Schwangerschaftswoche

Der Paragraph 218 gerät wieder in die Diskussion. Ärzte und Politiker erwägen eine Reform des Abtreibungsrechts. Diesmal geht es nicht um eine grundsätzliche Änderung, sondern um eine engere Fassung der medizinischen Indikation. Den Anstoß hat der Fall eines behinderten Jungen gegeben: Ein Oldenburger Arzt hatte in einer vorgeburtlichen Untersuchung den Gendefekt Trisomie 21 diagnostiziert. Aufgrund der Behinderung entschlossen sich die Eltern in der 25. Schwangerschaftswoche für eine Abtreibung. Schwerverletzt überlebte das Kind den Eingriff im Sommer vergangenen Jahres.

Die sogenannte eugenische Indikation - die Abtreibung eines Fötus aufgrund einer diagnostizierten Behinderung also, die ihre ideologischen Wurzeln in der "Rassenhygiene" der Nationalsozialisten hat - wurde bei der letzten Reform des Paragraphen 218 abgeschafft. Praktiziert wird sie, wie der Fall beweist, trotzdem noch. In der Praxis wurde die klassische medizinische Indikation, die von einer Gefährdung der Mutter ausging, um eine eugenische Komponente erweitert. Die Formulierung des Paragraphen 218 läßt diese Möglichkeit zu : "...um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden..." Von rund 130 000 Abtreibungen jährlich in der BRD werden laut Statistischem Bundesamt etwa 200 nach der 23. Schwangerschaftswoche aufgrund dieser Indikation vorgenommen.

Eine Informationsbroschüre von Pro Familia über das seit Oktober 1995 geltende Recht zum Schwangerschaftsabbruch schreibt Klartext: "Eine medizinische Indikation kommt auch in Frage, wenn Sie einen Abbruch erwägen, weil aus ärztlicher Sicht mit einer erheblichen gesundheitlichen Schädigung des Kindes zu rechnen wäre (frühere 'embryopathische' oder 'eugenische' Indikation)." Im Falle einer solchen Indikation darf bis zum letzten Tag der Schwangerschaft abgetrieben werden. Nun fordern führende Ärztevertreter ein grundsätzliches Verbot von Abbrüchen nach der 20. Schwangerschaftswoche, denn ab diesem Stadium der Schwangerschaft bestehe die Möglichkeit, daß der Fötus lebensfähig sei. Ausgenommen von diesem Verbot soll die klassische medizinische Indikation bleiben.

Auch Inge Wettig-Danielmeier, Bundestagsabgeordnete der SPD, erwägt eine Überarbeitung der Indikation, doch sie befürchtet, "daß man mit einer Formalfrist nicht weiterkommt". Die medizinische Indikation müsse weiter in den Händen der Ärzte und der Eltern bleiben. Die frauenpolitische Sprecherin von Bündnis 90 / Die Grünen, Irmgard Schewe-Gerik, ist gegen eine Gesetzesänderung: "Der Paragraph 218 muß so bleiben, wie er ist. Eine generelle 20-Wochen-Frist lehnen wir ab. Wenn eine Mutter ihr Kind wirklich nicht austragen kann, muß ihr auch später noch die Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch gegeben werden." Gegen eine Änderung sprach sich auch der Deutsche Ärztinnenbund in Köln aus. Die Organisation fordert statt dessen einen Kodex, der Ärzte verpflichtet, Schwangerschaften nicht mehr nach der 20. Woche abzubrechen, damit eine Situation wie in Oldenburg nicht mehr eintreten könne.

"Ich habe das Gefühl, wir befinden uns auf dem Weg zum qualitätsgesicherten Kind, was unbedingt verhindert werden muß", sagt Frank Ulrich Montgomery, der Vorsitzende des Klinikärzteverbandes Marburger Bund: "Manche Ärzte sind schon zu der furchtbaren Lösung gekommen, das Kind im Mutterleib abzutöten, indem sie ihm mit einer langen Nadel Kaliumlösung ins Herz spritzen." Montgomery meint, daß die Medizin mit den heutigen Möglichkeiten zur pränatalen Diagnostik an ihre Grenzen gestoßen ist. Nach Schätzungen lassen sich in Deutschland jedes Jahr 50 000 Frauen auf die Genuntersuchung ein. 1992 befragte die Soziologin Irmgard Nippert 1 157 Schwangere, die sich für eine vorgeburtliche Diagnose entschieden hatten. Vier von fünf der Befragten gaben an: "Weil für mich die Vorstellung, ein ganzes Leben lang für ein behindertes Kind sorgen zu müssen, schwer erträglich ist." Finanzielle Belastungen befürchtete ein Drittel der Befragten. Auch der ärztliche Rat von Gynäkologen spielte bei der Entscheidung für oder gegen die vorgeburtliche Untersuchung eine wichtige Rolle. Zwei Drittel der Schwangeren gaben an, ihr Frauenarzt habe sie beeinflußt, die Diagnose vornehmen zu lassen.

Schon 1994 bemerkte das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag "schleichend eine Stigmatisierung und Diskriminierung von Trägern bestimmter genetischer Merkmale". Die Fraktionen forderten daraufhin, der Gesetzgeber müsse endlich handeln, um den Mißbrauch genetischer Diagnosen und Daten zu verhindern. Geschehen ist nichts. Nach wie vor fühlen sich Frauen nach der Diagnose allein gelassen mit der Frage, ob sie ihr Kind behalten oder abtreiben sollen. Therapeutische Begleitung gibt es dabei selten. Geborenen Behinderten wird mehr und mehr der Freiraum eingeschränkt. Erst vergangene Woche wurde geistig Behinderten vom Kölner Oberlandesgericht untersagt, während bestimmter Uhrzeiten im Garten bestimmte Laute von sich zu geben. Ein Musiklehrer hatte gegen eine Behinderten-Wohngruppe geklagt - wegen der "Schreie", des "Gebrülls" und der "unartikulierten Laute" seiner Nachbarn könne er seine Terrasse nicht mehr nutzen. Die "unzumutbaren" Geräusche müssen nun unterbleiben: Die Behinderten dürfen sich nicht mehr in ihrem Garten unterhalten.