Ist Dimitroff gegessen?

War der Nationalsozialismus ein Klassen- oder ein Rassenstaat? Eine Kontroverse.

Wippermann: Im Faschismus hat es eine kapitalistische Klassengesellschaft gegeben, aber der faschistische Staat war kein Klassenstaat mehr. Erstens weil der Staat kein Instrument irgendeiner Kapitalfraktion war. Dimitroff können wir nun wirklich als gegessen betrachten, das ist wirklich unsinnig. Es gab ein Bündnis und eine Verselbständigung der faschistischen Exekutive. Den Staat so instrumentalistisch definieren zu wollen, wie das die selige DDR getan hat, das geht nun wirklich nicht mehr.

Zweitens, weil die verschiedenen Kapitalfraktionen ihren Profit nicht über den Markt machten, den Verkauf der Produkte, sondern durch den Kampf um die Zuteilung von Rohstoffen und Arbeitskräften. Das ist eine andere Gesetzmäßigkeit.

Er war drittens kein Klassenstaat mehr, weil es immer weniger freie Lohnarbeiter gab, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen mußten, sondern dienstverpflichtete Volksgenossen, Zwangsarbeiter und immer mehr Arbeitssklaven. Dieses Prinzip der Sklavenarbeit war nicht primär ökonomisch motiviert, etwa wie im Gulag-System der Sowjetunion, sondern stand bereits unter dem Primat der Ideologie des Rassismus.

Übrigens möchte ich gerne mal bemerken, daß der Begriff "Rassenstaat" von mir stammt. Was heißt Rassenstaat? Das Programm ging auf eine "Reinigung des Volkskörpers" von allen "rassefremden Elementen" aus - neben den Juden die Sinti und Roma, die slawischen Minderheiten, die Sorben und auch die ganz kleine Gruppe der Afrodeutschen. Weiterhin die Reinigung von "Asozialen", worunter, neben den "geborenen Asozialen", den Sinti und Roma, sicher auch die Homosexuellen zu subsumieren sind, und von sogenannten erbkranken Elementen. Dieser gereinigte Volkskörper, der sich gleichzeitig eine neue Meisterrasse schaffen wollte, sollte ein hierarchisch gegliedertes Rasseimperium errichten. Zur Errichtung dieses Rasseimperiums wurden Rassenkriege geführt, das gilt insbesondere für den Krieg gegen die Sowjetunion, der keineswegs nur gegen den "jüdischen Bolschewismus" geführt wurde, sondern in der Tat um Lebensraum, zur Ausrottung und zur Ansiedlung.

Und hier, und das ist die zweite Komponente, gibt es eine Übereinstimmung nicht nur der Staatsführung und der Eliten, insbesondere der Wehrmacht und ihrer Offiziere, sondern auch großer Teile des Volkes. Der Rassismus ist nicht nur die Ideologie der Herrschenden, sondern wird auch geteilt von den Beherrschten, und insofern gab es nicht nur, wie Goldhagen sagt, willige Vollstrecker des Antisemitismus, sondern viele willige Vollstrecker des Rassismus.

Roth: Stand hinter dem deutschen Faschismus das Kapital? Und falls ja, war es so, wie Dimitroff und die Komintern sich das vorgestellt haben? Meine Antwort dazu ist vielleicht etwas überraschend: Ja, das Kapital stand dahinter, aber es war anders. Es war anders in einem paradoxen Sinn.

Nach neueren und neuesten Forschungen muß davon ausgegangen werden, daß zwischen 1931 und 1933 in allen führenden Unternehmensverbänden, wichtigen Unternehmen und Wirtschaftsgruppen Positionsverschiebungen stattgefunden haben, die auf ein strategisches Bündnis mit dem deutschen Faschismus hinausgelaufen sind.

Also nicht nur Finanzkapital im traditionellen Sinn, wie die Komintern das artikuliert hat, sondern alle Kapitalgruppen, beispielsweise auch die Technologiekonzerne und der Groß- und Außenhandel. Das ist eine sehr überraschende Feststellung, das ist nämlich eine Radikalisierung dieser Position. Nicht eine Minorität des deutschen Kapitals hat auf den Machtfaktor und das politische Diktaturbündnis mit den Nazis gesetzt, sondern in dieser Zeit alle wesentlichen Gruppierungen.

Parallel zu Dimitroff hat 1935 ein anderer marxistischer Theoretiker, Franz Neumann, diese Phänomene untersucht, und er hat gesagt: Es besteht in Nazi-Deutschland eine ökonomische Diktatur des Kapitals, diese wird durch die politische Diktatur des Kleinbürgertums terroristisch getragen und gleichzeitig verschleiert. Ich glaube, daß diese Annäherung weiter und genauer war, als die der Komintern, aber es war eben auch nur eine Annäherung, denn die Kleinbourgeoisie war seit 1934 entmachtet und das Kapital hat sehr spezifische Machtstrukturen in diesem System entwickelt.

Zur Massenvernichtung: Meines Erachtens kann und muß die Völkermordpolitik, die der deutsche Faschismus entwickelt und durchgesetzt hat, aus drei zentralen Komponenten, die ihn konstituiert haben, erklärt werden. Einmal, aus dem bestialistischen Syndrom. Es ist ganz einfach so, daß es Vernichtungsdenken gegeben hat, und zwar nicht nur im Rassenantisemitismus, beispielsweise innerhalb der SS, das auf die Möglichkeit des Zuschlagens, der Rache, der Ausmerzung, der Austilgung im Krieg gewartet hat. Zweitens, konstitutiv für diesen Prozeß des Übergangs zur Massenvernichtung war die politische Diktatur, war der politische Terrorismus selbst. Er war einfach eine elementare Komponente, und sie kann, wenn wir über die Massenvernichtung sprechen, nicht ausgegrenzt werden.

Das dritte, und das ist das, worüber in den letzten zehn Jahren einige wichtige Forschungsergebnisse vorgelegt worden sind: Es ist ganz einfach historische Evidenz, daß wirtschaftspolitische Strategien bei diesen Vernichtungsstrategien eine entscheidende Rolle gespielt haben. Beispiel Generalgouvernement, das besetzte Restpolen: Dort wurde eine wirtschaftspolitische Konzeption entwickelt, die darauf hinauslief, dieses Generalgouvernement aus eigener Kraft wirtschaftlich zu entwickeln, und dazu wollte man eine deutsche Führungsschicht etablieren, man wollte gleichzeitg ein Kollaborationsbündnis mit der polnischen Bevölkerung, insbesondere mit den polnischen Bauern und Handwerkern, eingehen, indem man den sogenannten jüdischen Sektor im Generalgouvernement, wie es in den Planungspapieren heißt, zusammenpreßt.

Es war eine Strategie der Kapitalakkumulation auf der Basis einer Massenvernichtung. Wir müssen genauso einbeziehen, daß die soziale Enteignung, die Pauperisierung der jüdischen Bevölkerung vor dem Krieg im Kontext einer Spekulationskonjunktur gestanden hat, wo innerhalb der weiterhin depressionsgeschüttelten Wirtschaft plötzlich Ventile geöffnet worden sind, die neue wirtschaftspolitische Karrieren ermöglicht haben. Es gab also drei Komponenten, und diese sind untrennbar miteinander verbunden.

Wippermann: Ich kann Karl-Heinz Roth nicht zustimmen, ich glaube nicht, daß wirtschaftspolitische Strategien zum Rassenmord geführt haben. Auch Götz Aly liegt hier mit seinen Untersuchungen falsch, es wurden im Osten nicht irgendwelche "überschüssigen" Menschen umgebracht, sondern sehr ausgesuchte, bestimmte, charakterisierte und rassistisch stigmatisierte Menschen. Rassenmord ist nicht wirtschaftspolitisch motiviert und schon gar nicht ökonomisch im Sinne eines plumpen Nutzens, sondern, und das ist hier der entscheidende Unterschied, es ist eben die Auswirkung dieser Ausdrucksideologie des Rassismus. Marxisten müssen endlich mal einsehen, daß sie mit ihrem Ideologiebegriff nicht vorankommen. Ideologie ist mehr als dieses falsche Bewußtsein, mehr als Rechtfertigung.

Unsere Unterschiede bestehen also in der Einschätzung des faschistischen Staates - er ist nach meiner Meinung kein Bündnis, sondern hat sich verselbständigt - und der Einschätzung des Rassimus als Programm, das man nicht mehr subsumieren kann unter wirtschaftspolitischen Strategien.

Roth: Ich glaube, daß das Problem bei Wippermann darin besteht, daß er einen zu schlicht gestrickten Begriff von Kapitalismus hat. Für Wippermann ist der Kapitalismus nur dann präsent, wenn es freie Märkte gibt und wenn es freie Arbeitskraft gibt, freie Lohnarbeiter. Also eigentlich das, was wir jetzt haben, entfesselte Märkte, und dort, wo unfreie Arbeit auftritt oder dort, wo die Märkte gebunden werden, dort hört der Kapitalismus auf, und es entsteht eine merkwürdige Art der offensichtlich rassenstaatlichen Wirtschaftsverwaltung. Das ist absurd.

Ich möchte mit einem konservativen Wirtschaftstheoretiker, der nach der NS-Diktatur zum wichtigsten wirtschaftspolitischen Berater unseres früheren Wirtschaftsministers Ludwig Erhard wurde, antworten. Dieser Herr Müller-Armack hat in einer Grundsatzschrift des Jahres 1932, in der er im Auftrag von Arbeitgeberverbänden die Einführung von Zwangsarbeit theoretisch legitimieren sollte, folgendes formuliert: Was ist eigentlich die Essenz des Kapitalismus? Die Quintessenz des Kapitalismus sind nicht die Märkte, auch nicht die freie Lohnarbeit, die Quintessenz des Kapitalismus besteht darin, daß die Eigentümer der Kapitalvermögen über die Investitionen entscheiden, und daß eine Verwertung der Arbeitskraft durch das angelegte Kapital stattfindet.

Alles das, was im Faschismus geschehen ist, haben die Kapitalfunktionäre selbst entschieden. Sie haben entschieden über die Beseitigung von freien Lohn- und Arbeitsverhältnissen. Sie haben entschieden über die Marktordnung, und nicht die NSDAP-Bürokratie. Es hat eine Autonomie der Kapitalreproduktion in der NS-Diktatur gegeben, und in diesem Kontext ist genau ihre Bündnisfunktion zu erklären. Das Verrückte an dieser Situation ist, daß diese Leute, die diese Planung betrieben haben, gleichzeitig absolute Rassisten waren.

Wippermann: Das kann ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen, daß ich nichts von Kapitalismus und Marxismus verstehe. Noch mal zur Verdeutlichung, warum der deutsche Faschismus kein Klassenstaat war: Wenn der Markt soweit ausgeschaltet wird, wie in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, daß die Profite nicht über den Markt, sondern in dieser Planungsbürokratie durch die Zuteilung von Rohstoffen und Arbeitskräften gemacht werden, dann ist das etwas anderes. Das zweite, noch wichtigere: Wenn das Prinzip der freien Lohnarbeit - nach Marx: daß die Ware Lohnarbeit verkauft werden kann und muß - soweit vom Prinzip der Sklavenarbeit verdrängt wird, daß eigentlich ein Rückfall schon fast zu befürchten oder anzusehen ist, dann ist das etwas anderes, als das, was im 19. Jahrhundert entstanden und von Marx und anderen als Kapitalismus bezeichnet worden ist. Wenn dann Arbeitskräfte, die zur Profitproduktion und zur Kriegführung dringend benötigt würden, zu Millionen vernichtet werden, dann ist das nicht mehr das rationale Kalkül des Kapitalismus, und im Kern ist der Kapitalismus rational.

Roth hat natürlich recht, daß einzelne Kapitalisten Rassisten waren, das ist unbestritten. Aber den Holocaust, den Rassenmord mit einer Imperialismustheorie im Sinne der seligen Stamokap-Theorie erklären zu wollen, das ist doch ein theoretischer, ein theoriegeschichtlicher Rückschritt.

Auf den Punkt gebracht ist die Herausforderung nicht nur für die Linken, sondern die Historiker generell, die Wissenschaften überhaupt: endlich einmal eine Erklärung des Holocaust, des Rassenmordes zu erarbeiten. Und wenn der so gerne von mir bewunderte Johannes Agnoli nun im Vorwort zu seiner "Faschismustheorie" so ähnlich wie Kühnl sagt, " ich hab mich zum Holocaust nicht geäußert, denn dazu gibt es keine rationale marxistische Erklärung", dann ist das eine Bankrotterklärung, das dürfen wir nicht zulassen.

Es ist doch ganz eindeutig, daß die dogmatischen marxistischen und generell die Imperialismustheorien bei der so notwendigen Erklärung versagt haben: Wie konnte es zum Rassenmord kommen und warum wurde er so willig exekutiert? Das muß gemacht werden. Also weder Bankrotterklärung noch alte Imperialismustheorie, sondern erneute Anstrengung.

Karl-Heinz Roth ist Arzt und Sozialhistoriker und lebt in Hamburg. Er gibt die Zeitschrift 1999 heraus.

Wolfgang Wippermann lehrt Neuere Geschichte an der FU Berlin.

Die Diskussion fand am 14. Januar an der Freien Universität Berlin statt, eingeladen hatten der Asta und die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB). Die Beiträge wurden redaktionell gekürzt.