Marmor, Stein und Eisen bricht

Vor 100 Jahren wurde Sergej M. Eisenstein geboren. Heute wird er abgewickelt. Aber nicht

1898 wurde Eisenstein geboren. Aber während ich zur Jubelglosse ansetze, ist mein Idol längst abgewickelt. Und ich muß mich als Psychowrack und Nazifreund in aller Öffentlichkeit rechtfertigen. "Panzerkreuzer Potemkin" ist nix als totalitäre Propaganda, erkannte die Moskauer Eisenstein-Konferenz vom Dezember 1988: "Ist es ein Zufall, daß Goebbels von seinen Künstlern 'den national-sozialistischen Panzerkreuzer' forderte? Ist Kunst eine emotionale und ideologische Versklavungsmaschine, Psychotechnik und Psychotraining?"

Die rhetorische Frage wird von Otto Werckmeister, Ikonoklast und Kunstgeschichtler in Illinois, in seinem momentan allseits bejubelten Buch ("Linke Ikonen", 1997) zitiert, um seinerseits noch was draufzusetzen: "Die psychologische Unterwerfung der Beschauer vermittels 'Schocks', die Eisenstein anstrebte - 'Schädel brechen', wie Lenin sich ausdrückte - erinnert an die zwangsweise psychiatrische Umerziehung politischer Dissidenten in sowjetischen Nervenheilanstalten". - Erschreckt mußte ich mich fragen, ob ich mit meiner Eisenstein-Verehrung längst Opfer bolschewistischer Gehirnwäsche geworden bin. Bislang hatte ich angenommen, daß Eisensteins Montagestil der Bild-Kollisionen zu neuen, überraschenden Einsichten anregte, gar zu intelligenter revolutionärer Arbeit. - Mein Gott, ich fühlte mich sowas von allein. Wo bloß war das Revolutionäre geblieben?

Im Personen-Verzeichnis der Leni Riefenstahl-"Memoiren" (3. Auflage, 1996) schlug ich unter "Eisenstein" nach und las es, wie ihr Ende der zwanziger Jahre nach Besichtigung des "Panzerkreuzer Potemkin" im Kino am Kurfürstendamm "zum ersten Mal bewußt wurde, daß Film auch Kunst sein könnte". Denn "die Wirkung war ungeheuer, Technik, Fotografie und Personenführung revolutionär".

Ja, soll denn diese spezielle Eisenstein-Rezeption das letzte Wort sein? Ich bin doch nicht als professioneller Fotograf im Kino gewesen; außerdem kann ich mich deutlich erinnern, daß ich dort mitnichten allein war. Was war das für ein Erlebnis gewesen, ein Eisenstein-Erlebnis: Sein Bild-Kollisions-Stil brachte seine, meine, unsere Erfahrungswelten zusammen, aktivierte Assoziationen, stellte Kontexte her, weckte Beteiligung und Bereitschaft, überzeugte. Ja, das war und ist Pathos. Auch läßt sich streiten, ob Agitprop was Schlechteres ist als Quotenprop.

Die "Potemkin"-Rezeption ließ sich nicht genau kalkulieren, die Kontexte differierten, auch läßt sich die Erfahrungstatsache nicht leugnen, daß Menschen, die ins Kino gehen, unterschiedlich sind. Jeder trifft, nein: Jeder traf seinen Eisenstein im Kino, was mich betrifft. Denn ein Film wird bekanntlich erst in der Projektion existent, und die sogenannte objektive Filmanalyse ist Leichenschneiderei am Schneidetisch. Werckmeister gehört zu den objektiven Pathologen, und deshalb kann er einen Film wie "Panzerkreuzer Potemkin" nur als Vehikel für die Übermittlung objektiver Wahrheiten etwa als Informationsträger zeitgenössischer Revolutionsgeschichte sehen. Aber wer war denn in den Film gegangen, um sich über die wahre Rolle des Militärs belehren zu lassen?

Wenn der hochpathetische Titel "Brüder" ins "Potemkin"-Bild kommt, ist es doch völlig wurscht, ob die Genossen Uniformen anhaben oder nicht. Eisenstein hatte sich mit 19 Jahren zur Roten Armee gemeldet, doch das Textil ist egal, wenn wer kommt, eines Freundes Freund zu sein. Nur ein Fachidiot wie Werckmeister kann im floriden Entlarvungswahn den "Potemkin"-Film darauf reduzieren, daß er den "militarisierten Sozialismus verherrlicht". Dann wäre es freilich heute damit zu Ende.

Der Abwickler aus Illinois wird sich jedoch noch wundern. Denn die Rezeptions-Erlebnisse und die Kultur des visuellen Denkens - grade das bringt uns mit dem Jubiliar Eisenstein heute wieder in Kontakt - mit allen Abenteuern und Risiken, die die Vieldeutigkeit eines Bildwerks impliziert. Mag sein, daß Eisensteins Film-Sprache nirgendwo fremder war als in den (durchgeplanten) Gesellschaften des real existierenden Sozialismus (Seeßlen). Die Filme werden jedem lieb und vertraut sein, der sich noch ein etwas Leidenschaft aufgehoben hat. Brüder!