Rebellion oder Irrsinn?

Der Unabomber bringt das US-amerikanische Justizsystem aus der Fassung

Der Prozeß konnte wieder nicht beginnen, der Angeklagte war ohne Unterwäsche zur Verhandlung erschienen. Aber seine unsichtbare Nacktheit störte nicht mal den puritanischsten US-Amerikaner. Die Aufsichtspersonen des Unabombers wunderten sich nur, als sie bei Ted Kaczynski während des Zwangswechsels von der orangenen Knastkluft in den zivileren Verhandlungsanzug nichts außer seinem blassen 56jährigen Körper sahen. Allerdings leuchteten ein paar Streifen am Genick. Mit Hilfe seiner Unterwäsche wollte er sich in seiner Zelle aufhängen - das sagt wenigstens der Anwalt seines Bruders David. Jener Bruder, der ihn verpfiffen hat. Gefängnisbeamte erklärten, daß der sonst so vorbildliche Insasse plötzlich depressiv aus einer Vorverhandlung in die Zelle zurückkehrt sei.

Man will den Unabomber für verrückt erklären. Sein Verteidigungsteam und Bruder David sehen diese Strategie als einzige Chance, die drohende Todesstrafe zu verhindern. Ted Kaczynski verweigerte jedoch bisher jegliche psychiatrische Untersuchung. Denn bereits während seiner jahrzehntelangen selbstgewählten Zurückgezogenheit in einer Berghütte, während der er Briefbomben an von ihm beschuldigte intellektuelle Vertreter dieser zerstörerischen Zivilisation verschickte, fürchtete er den Stempel der Geisteskrankheit durch die Öffentlichkeit. Deshalb erpreßte er zum Schluß die Publizierung seines Manifestes. Obgleich viele Intellektuelle, Politiker und gewöhnliche Bürger darin übereinstimmten, daß ein großer Teil des Manifestes eine überzeugende und erschreckend klare Analyse unserer Zeit liefert, fühlte man sich verwirrt über die rücksichtslos nach allen Seiten ausgeteilten Hiebe des Verfassers. Einer, der sich politisch nicht festlegt, muß wohl ein psychisches Problem haben. Richter Burrell stand bisher relativ allein da mit seiner Auffassung von der völligen Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Doch dann brachte der Suizidversuch auch ihn zum Grübeln.

An jenem Morgen sollte nach endlosen Verschiebungen endlich die Verhandlung beginnen. Aber dann verlangte Kaczynski die Ablösung seiner Verteidiger. Er wollte sich selbst verteidigen und schlug den sofortigen Prozeßbeginn vor. Da reichte es sogar dem Richter. Der Mann müsse ein psychisches Problem haben, meinte er. Es wurde mit dem Justizministerium telefoniert, mit dem Obersten Gericht und mit Gesetzesexperten. Wie kann ein Angeklagter, der mit der Todesstrafe rechnet, ein ausgezeichnetes Verteidigerteam feuern wollen? Darf er das überhaupt, und was darf der Staat?

Erst einmal wird er nun von einem Psychiater untersucht. Falls er sich dagegen wehren würde, hatte man ihm schon mit der sofortigen Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt gedroht.

Die Öffentlichkeit ist merkwürdigerweise nicht von Haß gegen den Unabomber erfüllt. Selbst die 28 durch Briefbomben Verletzten sowie Angehörige der drei Getöteten strengten bisher keinen Prozeß gegen ihn an. Eine große Zahl von US-Amerikanern ist nicht sonderlich regierungsfreundlich. Man ist auf der Seite von David Kaczynski, dem für die Auslieferung seines Bruders die Vermeidung der Todesstrafe versprochen wurde. Er beklagt heute, daß dieser Deal eiskalt gebrochen worden sei.

Alle Prozeßbeteiligten sind inzwischen einhellig der Meinung, daß der Unabomber nicht völlig zurechnungsfähig ist. Denn wer vehement den Verhandlungsbeginn mit stets neuen Komplikationen und schließlich der Forderung nach Ablösung seiner ihm zugeteilten Verteidiger verhindert, ist ihrer Meinung nach selbstzerstörerisch und muß vom Staat geschützt werden. Der Gedanke, daß die Todesstrafe einen solchen Gewissenskonflikt erst ermöglicht, wurde allerdings in der bisherigen Diskussion nicht laut. Das allgemeine Gerangel geht um die Lösung der rechtlichen Frage, ob der Angeklagte kompetent genug ist, die Verhandlung zu verstehen.

Aber kann ein Angeklagter zur von seinen Verteidigern gewählten Strategie gezwungen werden, wenn er nicht mit ihr einverstanden ist? Die US-Verfassung garantiert dem Angeklagten, wenn er die Risiken versteht, das Recht auf Eigenverteidigung ohne Anwälte. Richter Burrell zweifelt wegen der andauernden Einsprüche von Kaczynski plötzlich jedoch an dessen Kompetenz. Das - die Todesstrafe verhindernde - Kompromißangebot von Ted Kaczynski, sich in allen Fällen schuldig zu bekennen, wurde bisher nicht beachtet. Der Richter ließ verlauten, daß nicht Kaczynski, sondern nur seine Anwälte über die Art der Verteidigung entscheiden könnten. Experten sehen dies inzwischen als problematisch an, da üblicherweise die Regel gilt: Der Angeklagte entscheidet über den Inhalt, die Anwälte über die Strategie der Verteidigung.

Die Verwirrung in der Sache Staat gegen Bürgerschreck zeigt nicht nur die Schwächen im Rechtssystem. Nur weil einer jegliche politische Richtung ablehnt, muß er nicht verrückt sein. Dann wären auch Anarchisten wie Bakunin oder Naturalisten wie Thoreau unzurechnungsfähig gewesen. Ebenso mutet es befremdlich an, den Willen eines Mannes, für seine Ideen und Taten geradezustehen, als Zeichen von Verrücktheit hinzustellen. Eines beweist die Rechtsprozedur auf jeden Fall - der Unabomber siegt, er stürzt die Gesellschaft weiterhin in Unsicherheit.