Entdecker der Demokratie

Nach dem Refah-Verbot wächst die Kritik an Islamisten-Chef Erbakan

Diesmal scheint es tatsächlich das Ende zu sein. Ermattet von dem Prozeßmarathon der vergangenen Monate, versuchte Islamistenführer Necmettin Erbakan - vor ein paar Monaten noch türkischer Ministerpräsident - vergangene Woche vor allem die Panik in den Reihen seiner soeben geschlossenen Wohlfahrtspartei zu mildern. Die beginnenden Streitereien um die Nachfolge Erbakans, der durch das Verfassungsgericht zu fünf Jahren Politikverbot belegt wurde und mit großer Wahrscheinlichkeit nach Veröffentlichung des Urteils in der amtlichen Offiziellen Zeitung das Parlament verlassen muß, zeigen an, daß die Ära Erbakan zu Ende ist.

Bereits in den vergangenen Wochen, in denen sich die Schließung abzeichnete, hatten vor allem die potentiellen Nachfolger der "jungen Generation", der islamistische Oberbürgermeister von Istanbul, Recep Yayyip Erdogan, und der ehemalige Außenminister des Necmettin Erbakan-Tansu Ciller-Kabinetts, Abdullah Gül, damit begonnen, die Fehler der islamistisch-konservativen Regierung zu kritisieren. Ein Novum, denn Kritik gab es bisher in der monolithisch geführten Partei, in der es nur eine wirklich relevante Stimme - die Erbakans - gab, nicht, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

Erdogan und Gül mokierten sich allerdings sehr medienpräsent darüber, daß die islamistische Partei sich in der Vergangenheit zu wenig um allgemeine Verstöße gegen die Menschenrechte und antidemokratische Maßnahmen wie zum Beispiel die Schließung der prokurdischen Parteien gekümmert habe. Damit bereiten sie auf der einen Seite die neue Erbakan-Linie vor, der nach einer Türkei-Tournee in Sachen "Demokratisierung der türkischen Militärdemokratie" auch eine Reise nach Europa plant, um auf die antidemokratischen Mißstände in dem Land hinzuweisen, das er bis vor ein paar Monaten noch selbst regierte, ohne große Reformen durchführen zu wollen.

Auf der anderen Seite leiten sie aber auch eine Post-Erbakan-Ära ein und bereiten die Basis bereits darauf vor, daß der "Hoca", wie Erbakan auch genannt wird, in Zukunft "ideologisch der richtungsweisender Führer im Hintergrund" sein wird - eine Rolle, mit der sich Erbakan zur Zeit gar nicht anfreunden kann. Nach dem Parteiverbot ließ sich der 72jährige im Triumphzug von mehreren Tausend Anhängern durch Istanbul geleiten. Für mehrere Stunden blockierte die Masse den Verkehr der Millionenstadt und feierte wie eh und je Erbakan als "Glaubenskämpfer" und "unseren Ministerpräsidenten". Der ehemalige Thronprinz Erdogan wurde von Erbakan indirekt als "einer von denen" tituliert, und Abdullah Gül mußte sich, da er den ehemaligen Parteiführer drängte, sich doch bitte schnell auf Beratung der Strategie für eine neue Parteigründung einzulassen, damit die verbliebenen islamistischen Abgeordneten nicht ihr Mandat verlieren, zurechtweisen lassen, er möge sich "um seinen Kram kümmern, bis er Anweisungen" erhalte.

Die ehrgeizigen Jungen sind über diese Brüskierung erzürnt, und erstmals zeichnet sich in der islamistischen Partei ein Generationenkonflikt ab. Necmettin Erbakan - an sich ein Politiker von großer Flexibilität - sieht sich zur Zeit in die Enge getrieben. Eine fünfjährige Pause kann er sich in seinem Alter nicht leisten, und an stilles Abdanken denkt er nicht. Mit Neugier ist in den nächsten Wochen daher die Auswirkungen der "Kampagne im Namen der Demokratie", die die Islamisten jetzt starten, in ihren Auswirkungen auf die innertürkische Diskussion zu erwarten, denn im Ausland wird Erbakan wenig Echo finden.

Zur Zeit tourt der ehemalige Ministerpräsident durch die Kulissen der Ankaraner Nationalversammlung und versucht, langjährige politische Rivalen im Namen der Demokratie zu Fürsprechern zu gewinnen. Denn außer dem amtierenden Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz, der es "bedauerte, daß das Verfassungsgericht tatsächlich systemfeindliche Elemente in der Wohlfahrtspartei entdeckt" habe, und seinem Stellvertreter Bülent Ecevit sprachen sich in der vergangenen Woche fast alle politischen Parteien und zivilen Institutionen posthum gegen die Schließung der islamistischen Partei aus.

Im Unterschied zu den vorhergehenden Parteischließungen, die nach jeweiligen Putschen des Militärs 1972 und 1980 auf einem allgemeinen Eingriff der Armee in die Institutionen der wackligen türkischen Demokratie folgten und zur Schließung sämtlicher Parteien führte, wurde 1997 erstmals gegen eine damals noch amtierende Regierungspartei vor dem Verfassungsgericht Klage erhoben. Das von den Generälen veranlaßte vorschnelle Ende der Erbakan-Ciller-Koalition richtete sich gezielt gegen eine einzelne Partei, die Refah.

Zum "Volksfeind Nummer eins" bestimmt zu werden, ist bislang nur der prokurdischen Bewegung wiederfahren, gegen deren vierte Partei seit Monaten ein Verbotsverfahren läuft, nachdem sie wegen eines una-däquaten Wahlsystems im Parlament schon gar nicht mehr vertreten ist und vier ihrer ehemaligen Abgeordneten seit drei Jahren im Gefängnis sitzen. Das Ausbooten seiner eigenen Partei bezeichnete Erbakan unlängst als "Staatsfaschismus"; der Aufhebung der Immunität der kurdischen Abgeordneten der DEP (Demokratie-Partei) hatte seine Fraktion dereinst einstimmig zugestimmt.

Erbakan gehört zur alten Politikergeneration in der Türkei. 1926 als Sohn eines Richters geboren, verbrachte er seine Kindheit in Istanbul und besuchte dort das in deutscher Sprache unterrichtende Istanbul Erkek Lisesi. Nach Abschluß des Gymnasiums sprang er sofort in die zweite Klasse der Maschinenbauer an der Technischen Universität Istanbul. Damals verrichtete er im Studentenheim sein Morgengebet oft gemeinsam mit zwei Freunden. Einer war der heutige Staatspräsident Süleyman Demirel, der andere der inzwischen verstorbene ehemalige Minister- und Staatspräsident Turgut Özal.

Diese drei Politiker haben das Bild der dominanten konservativen Parteien in der Türkei entscheidend geprägt. Özal, ebenso wie Erbakan Mitglied der einflußreichen islamischen Sekte Naksibendi, kandidierte vor dem Militärputsch in Izmir für die Vorläuferpartei Erbakans, die Nationale Heilspartei, ohne jedoch gewählt zu werden.

Anders als die ebenfalls religiöse Werte protegierenden konservativen Parteichefs Özal und Demirel betonte Erbakan in seiner 1971 gegründeten Nationalen Heilspartei mehr das osmanische Erbe als die Prinzipien des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, der den Laizismus als staatstragendes Prinzip der Republik Türkei 1923 in der Verfassung verankern ließ. Trotz dieser relativen Außenseiterrolle führte die Zersplitterung der türkischen Parteienlandschaft bereits in den siebziger Jahren dreimal dazu, daß die Islamisten Regierungskoalitionspartner und Erbakan stellvertretender Ministerpräsident werden konnten.

Doch nachdem seine Partei zweimal verboten worden war, ist der siebzigjährige Politveteran vorsichtiger geworden. Auch wenn sich hinter dem Parteiprogramm "Gerechte Ordnung" für viele Refah-Anhänger nichts anderes als eine islamische Staatsordnung verbirgt, bekennt sich die Parteiführung mehr zur laizistischen Staatsordnung.

Nach dem großen Erfolg bei den Kommunalwahlen 1994, der ihnen die meisten Kommunen und die Oberstadtverwaltung der Metropolen Istanbul und Ankara einbrachte, hat sich Erbakan zumindest verbal mit Staatsgründer Atatürk ausgesöhnt. Würde der noch leben, wäre er Refah-Anhänger, verkündet Erbakan seither, und stützt sein Selbstvertrauen vor allem auf das wohlgepflegte Saubermann-Image der Partei - obwohl die Partei im Verdacht steht, Spendengelder für Bosnien zunächst nach Deutschland verschickt und dann über einen Strohmann für Refah-Zwecke wieder in die Türkei überwiesen zu haben, und auch Erbakans Privatvermögen trotz lebenslanger Politikerlaufbahn in die Millionen geht.