Wie links ist die Linke?

Über Konsequenzen aus dem Antisemitismus in der Linken streiten

Offenbarte die Gollwitz-Debatte eine neue Qualität des Antisemitismus der Linken? Spielte ein Großteil der Linken dabei dieselbe Rolle wie die CDU/CSU beim Pogrom in Rostock-Lichtenhagen? Kann Adornos Position, "alles zu tun, damit Auschwitz nicht sich wiederhole", also nur in einem neuen emanzipatorischen Projekt außerhalb der real existierenden Linken verteidigt werden? Andererseits: Hat sich nicht in den letzten Jahren gerade in der parteiunabhängigen Linken eine Strömung formiert, die diesen kategorischen Imperativ ernst nimmt? Schadet man dieser nicht, wenn man sich von der Linken verabschiedet?

Elsässer: Der Antisemitismus von links kam nirgends so deutlich und so unverblümt zum Ausdruck wie im Zusammenhang mit Gollwitz. Es gab Antisemitismus von links beispielsweise in ganz massiver Form auch während des Golfkrieges. Aber es gibt einen Unterschied: Im Golfkrieg war dieser Antisemitismus von links verkleidet als Antizionismus. Das heißt, die Judenfeindschaft hat sich hinter Israel-Feindschaft versteckt. Es war zwar eine schäbige Verkleidung, aber es war immerhin eine Verkleidung. Die Protagonisten wußten also, daß sie etwas Peinliches tun, und waren bestrebt, es zu bemänteln. Bei Gollwitz gab es diese Bemäntelung nicht mehr. Der Antisemitismus von links trat unverkleidet auf die politische Bühne. Zugespitzt würde ich sagen: Große Teile der Linken haben im Falle Gollwitz dieselbe Rolle gespielt, wie 1992 die CDU/CSU im Falle von Rostock-Lichtenhagen. Es gab schon immer seltsame Leute links, Reaktionäre, Deutschnationale, etwa Gerhard Schröder bei der SPD oder Heinrich Graf von Einsiedel bei der PDS, aber man konnte sich bisher darüber hinwegtrösten, daß deren rassistische Sprüche weniger ihrem Links-Sein geschuldet seien als ihrem Nicht-Mehr-Links-Sein oder Nicht-Genug-Links-Sein. Diese Ausrede ist leider bei Gollwitz nicht mehr möglich. Man nehme etwa die PDS in Brandenburg, die Stolpe und die SPD angegriffen hat, praktisch im Sinne der Gollwitzer Antisemiten. Und richtig kriminell wird's dann beim linken Flügel der PDS, der Kommunistischen Plattform, die versucht hat, aus Gollwitz eine regelrechte Kampagne zu machen, und ihr Medium war die Tageszeitung junge Welt. Ähnlich äußerte sich kurz darauf die alteingesessene linke Monatszeitung ak aus Hamburg.

Dies waren keine Einzelerscheinungen, sondern sie wurden gedeckt von der Mehrzahl der Unterstützer dieser Parteien und Publikationen. Es gab in der SPD keine Kritik an Stolpe, es gab in der PDS keine einzige Kritik am Brandenburger Landesverband, es gab in den genannten Zeitungen Kritik von außen, aber keine Kritik von Redakteuren und, mit einer Ausnahme, auch nicht von ständigen Autoren. Und das ist das Niederschmetternde. So sind die Kräfteverhältnisse innerhalb der Linken. Antisemitismus ist ein Kavaliersdelikt. Und vor diesem Hintergrund kann man eigentlich Leuten wie Henryk M. Broder oder Dan Diner oder Micha Brumlik oder Wolfgang Pohrt den Abschied von der Linken nicht mehr zum Vorwurf machen. Ich würde thesenartig sagen, in einer Formation wie der DKP gibt es nicht mehr Aufgeschlossenheit für emanzipatorisches Gedankengut als in der FDP. Deshalb denke ich: Es geht nicht weiter mit der Linken. Wir brauchen ein neues emanzipatorisches Projekt, das die richtigen Inhalte des Kommunismus, nämlich weg vom Staat, weg von der Nation, weg vom Kapital, im Hegelschen Sinne aufhebt, also integriert, und dieses neue emanzipatorische Projekt kann nur außerhalb der Linken wachsen.

Tolmein: Wir können uns jetzt einmal anschauen, wo zumindest manche der Autoren, deren Abschied von der Linken Jürgen Elsässer hier begrüßt hat, ihr "emanzipatorisches Projekt" gefunden haben: Also Henryk M. Broder hat sein Projekt gefunden im Spiegel, dem Blatt, von dem man mit Fug und Recht sagen kann, daß es nun wirklich ein antisemitisches und rassistisches Blatt ist. Broder, der sich manchmal mit Recht, zunehmend weniger mit intelligenten Gedanken über die Linke verbreitet, verbreitet sich über sein emanzipatorisches Projekt Spiegel überhaupt nicht und auch nicht über dessen Antisemitismus. Das, finde ich, mindert seine moralische Größe. Daniel J. Goldhagen hat auch sein emanzipatorisches Projekt, nämlich die Bundesrepublik Deutschland nach 1945, das demokratische Deutschland, und das zumindest läßt mich zweifeln, inwieweit neben den historischen Betrachtungen, die sicherlich notwendig und wichtig sind und an denen viel falsche Kritik geäußert worden ist, inwieweit sein politisch-analytischer Verstand für uns als Linke wirklich ein großes Vorbild sein kann.

Nicht umsonst ist in dem Beitrag von Elsässer eben der Blick auf das, was eigentlich ansteht, auf dieses irgendwie emanzipatorische Projekt, sehr knapp ausgefallen. Ich möchte trotzdem ein paar Antworten geben auf die Frage: Was ist denn übriggeblieben? Zum Beispiel ist übriggeblieben - zumindest habe ich das in den letzten Jahren in vielen konkret-Artikeln gelesen - eine leise Nostalgie für die große Sowjetunion aus der Zeit ihres antifaschistischen Kampfes - aus einer Zeit, in der es noch nicht diese unendlich vielen kleinen Völker gab, die Selbstbestimmung forderten. Eine leise nostalgische Erinnerung, die außer acht läßt, daß gerade der großrussische Nationalismus in dieser Phase derjenige war, der den Antisemitismus in der Sowjetunion stark gemacht hat. Und das ist zum Beispiel eine Geschichte, mit der sich jemand wie Wolfgang Pohrt auseinandersetzen könnte, der nämlich in seinen Polemiken gegen den Nationalismus der kleinen Völker diesen großen Nationalismus leicht aus den Augen verliert. Übriggeblieben ist von der Linken, daß wir heute abend ein reines Männerpodium haben. Übriggeblieben ist auch von der Linken auch, daß vom Volk, von der Bevölkerung, bis heute nur ungern eine Distanzierung erfolgt. Wenn wir Masse haben können, dann nehmen wir die Masse gerne - ob das nun der Studentenprotest ist oder ob das irgendwelche neuen Bewegungen im militanten Anti-AKW-Kampf sind. Und übriggeblieben von der Linken ist auch, daß in der Tat der Holocaust und die besonderen Verbrechen des deutschen Nationalismus für die Theorie- und Praxisbildung der deutschen Linken keine zentrale Rolle bekommen haben.

Übriggeblieben ist auch eine starke Parteifixierung der Linken, oder zumindest bei den Kräften, die sich von der Linken hier gerade verabschieden. Denn wenn Elsässer sagt, je weiter nach links man blickt, desto schlimmer sei eigentlich das, was zu Gollwitz gesagt wurde, desto mehr übernehme die Linke heute die Rolle, die die CDU/CSU beim Pogrom in Rostock hatte, und dann fängt er an mit der SPD und dann geht er weiter zur PDS und dann kommt als ultralinkes Projekt die Kommunistische Plattform (KPF), dann möchte ich hier reklamieren, daß ich mich sehr viel weiter links als all diese Gruppierungen fühle - und trotzdem habe ich zu Gollwitz eine ganz andere Position. Dieser Blick, der bei der Linken außerhalb oder jenseits der KPF schon nicht mehr richtig etwas zu erkennen vermag, der ist dem geschuldet, daß man sich mit der Linken am ehesten außeinandersetzen kann anhand ihrer schriftlichen Publikationen. Und die schriftlichen Publikationen der radikalen Linken haben es manchmal schwer - die radikal zum Beispiel ist zur Zeit, durch politische Verfolgung bedingt, nicht mehr mit einem ganz regelmäßigen Erscheinen gesegnet und konnte sich deshalb zu dem hier in Rede stehenden Komplex noch nicht äußern.

Wenn man sich anschaut, wo Praxis von Linken heute stattfindet - die Unterstützung von Flüchtlingen, die antirassistischen Initiativen, die Kampagne "Kein Mensch ist illegal", die ganze Auseinandersetzung um Bioethik und den Rassismus gegen Menschen mit Behinderungen -, dann stellt man fest: Das sind Auseinandersetzungen, in deren Mittelpunkt in der Tat nicht die Revolution steht, sondern vielmehr so etwas wie bürgerliche Grundrechte. Nur, daß es heute eben häufig Linke sind, die diese bürgerlichen Grundwerte vertreten. Das heißt, die Linke muß heute an vielen Punkten Aufgaben übernehmen, die in einem bürgerlich-demokratischen Staat eine liberale Opposition übernommen hat. Und insofern ist der Vergleich mit der FDP, den Elsässer eben gebracht hat, nicht ganz falsch, ich denke nur, daß er ein bißchen in die andere Richtung geht.

Elsässer: Es geht mir beim Antisemitismus um ein allgemeines Phänomen innerhalb der Linken - ob es unter den Autonomen anders ist, die keine Publikationsmöglichkeiten haben, wie Tolmein angedeutet hat? Kann sein. Allerdings war ich auf der Demonstration in Gollwitz am 9. November und obwohl zu dieser Demo, nicht von den Veranstaltern, sondern überraschender Weise von der Berliner Zeitung gut mobilisiert worden ist, war die Beteiligung sehr bescheiden; ich glaube, da waren 200 Leute. Am gleichen Tag war eine Demonstration in Berlin von der Antifaschistischen Aktion Moabit, die auch den Schwerpunkt auf die Pogromnacht und den Antisemitismus legte und damit eher eine Ausnahme innerhalb der Linken ist, aber auch diese Demo wird seit Jahren nur von einem relativ kleinen Spektrum besucht, ich glaube diesmal waren es knapp 500 Leute. Das heißt, die Ausnahmen, von denen Tolmein spricht, kann man mit der Lupe suchen.

Tolmein: Aber das siehst du doch nicht an der Beteiligung von Demonstrationen in Gollwitz. Wenn das die empirische Basis ist, auf der du deine Auffassung bildest ... Ich war auch nicht in Gollwitz und ich gehe zur Zeit auf nahezu keine Demonstration mehr, weil ich es als eine relativ unfruchtbare Form empfinde. Da gibt es tausend Gründe, es können einem zum Beispiel die Aufruferparteien und -gruppierungen nicht gefallen, es kann einem der Aufruf nicht passen, man kann was anderes vorhaben - das ist doch nicht das Kriterium.

Du sagst ja auch nicht, die Leute sind nicht aktiv, sondern du sagst, die Linke habe die Funktion gehabt, die die CDU/ CSU bei Rostock hatte, und das ist wirklich eine andere Aussage. Es zeigt sich hier ein merkwürdiges Mißverständnis von dem Einfluß, den eine Linke in diesem Land auch nur annäherungsweise hat.

Elsässer: Ich gebe gerne zu, daß diese Demonstrationen, die ich als Beispiel angeführt habe, natürlich kein ausreichender empirischer Beleg sind. Allerdings hast du an Belegen einfach gar nichts angeführt. Du hast gesagt, die haben eben keine Zeitung, deshalb kann man's nicht nachvollziehen. Aber das, was man lesen und beobachten konnte, war niederschmetternd. Vielleicht gibt es auch andere - auch die Besucher unserer Veranstaltung und die Leser unserer Zeitung müssen ja andere Leute sein -, ich sag' ja nicht, daß von der Linken nichts Positives übrig ist. Aber die Frage ist, ob diese kleine antinationale Minderheit durch die Kategorie "Linke" nicht in ein ideologisches Zwangssytem mit Reaktionären, mit Verrückten gesteckt wird. Und ob es nicht Zeit wäre, demonstrativ zu sagen: Jawohl, wir halten an unseren emanzipatorischen Zielen fest, wir schwören nicht ab. Aber gerade weil wir dran festhalten, positionieren wir uns außerhalb von diesem Sumpf. Es ist in etwa - ich will keine großen Vergleiche machen, aber vom groben Raster her - eine Position, wie sie Horkheimer und Adorno versucht haben, als sie gesagt haben, jawohl, Festhalten an der Überwindung von Kapital, Staat und Nation, aber außerhalb der Linken. Weil gerade die Linke wesentliche Basisformen kapitalistischer Vergesellschaftung, etwa die Ontologie der Arbeit, etwa die Staatsfixiertheit, etwa die Deutschtümelei, weiter transportiert.

Tolmein: Der Erkenntnisfortschritt in allen Ehren, nur: Was in den nächsten Jahren an erheblichem Rechtsruck in der Gesellschaft droht, kommt nicht in erster Linie von der Linken, von diesen kleinen Resten, sondern in ganz erheblichem Ausmaß aus der konservativen, bürgerlichen und ehemals linksliberalen Ecke. Das heißt nicht, daß man die Auseinandersetzung innerhalb der Linken verdrängen soll. Das heißt nur, daß man auf ein ganz bestimmtes Gleis gerät, wenn man so tut, als wenn die Linken die Schlimmsten wären. Das sind sie nicht, sie sind einfach ganz normale Deutsche, wie viele andere auch.

Elsässer: Mit der Wiedervereinigung haben Leute wie du und ich und vor allem die Redaktion der Zeitschrift konkret den Versuch begonnen, den eigentlich simplen Gedanken von Grass "Deutschland denken, heißt Auschwitz denken" innerhalb der Linken zu verankern. Seither sind acht Jahre vergangen, jetzt ist einfach mal Zeit, Bilanz zu ziehen. Und da muß man doch sagen: Unser Versuch ist fehlgeschlagen, Gollwitz ist nur der sinnfälligste Ausdruck dafür. Es gab Fortschritte nach dem Golfkrieg. Ich erinnere mich an die Arbeiten von Ingrid Strobl, an die Selbstkritik der Revolutionären Zellen. Aber danach kam immer weniger. Nimm etwa das Buch, das du 1997 mit Irmgard Möller gemacht hast. Mir hat sehr gut gefallen, was du in dem Buch zum Antisemitismus der RAF sagst, aber Irmgard Möller hat an diesem Punkt keinen Zentimeter nachgegeben.

Tolmein: Weil wir alle deutsch können, kann man's nachlesen. Jedenfalls gibt es auf seiten der Leute, die in der RAF gekämpft haben, sehr wohl ein Eingeständnis, daß die Position und viele der Erklärungen, die sie abgegeben haben, insbesondere ihre Gleichsetzung von Auschwitz und den Bombardements der Aliierten auf Dresden, falsch waren. Es gibt Versuche zu erklären, warum sie das damals gemacht haben, aber es gibt heute - zumindest von denen, mit denen ich Kontakt habe -, keinen, der das so wiederholen würde. Da ist natürlich eine Entwicklung, die stattgefunden hat.

Ich denke, was in den letzten Jahren gelaufen ist, ist ein sehr langsamer und mühseliger Prozeß, der vorangeht, aber auch seine Rückschritte hat. Der aber jedenfalls nicht dazu führen kann, heute zu sagen, die Linke an sich, zumindest die Radikale Linke, sei vollkommen gescheitert. Von den Leuten, die dieses Konzept "Nie wieder Deutschland" eine Zeit lang vertreten haben, gibt es meines Erachtens keine, die die Gollwitzer verteidigt haben.

Die Diskussion fand am 10. Januar in der Berliner Volksbühne statt. Die Beiträge wurden redaktionell bearbeitet und stark gekürzt.