21. Gestorben wird immer

Fortgesetzte Erzählungen

Aber kommen wir zu Herrn Höhnemann, der soeben seine Werkstatt verläßt, um eine Kundin zu besuchen, die wir unter dem Namen Ida Schindehütte kennen.

Max Klebes sterbliche Hülle ist zur Beisetzung freigegeben, die Täter sind noch nicht ermittelt, die Honoratioren haben ihre Nachrufe verfertigt, Kränze und Schleifen sind gebunden, Sargträger und Schnittchen bestellt, der Festakt im Heimatmuseum dito, fehlt nur der Schreiner.

Ida Schindehütte ist zum ersten Mal Witwe, erledigt die Formalitäten jedoch mit Routine, als hätte sie schon mehrfach Ehemänner gehabt, die infolge eines Steinwurfduells zwischen deutschen und türkischen Mitbürgern ums Leben kamen.

Nur eines macht ihr Probleme: Seit acht Tagen kennt sie Klebes letzten Willen, aber noch immer weiß sie nicht, wie sie ihn auskosten soll. Am besten ganz unauffällig, das verwirrt sie am meisten.

So entstehen aus vier Eimer Zwetschken vierzig Gläser Pflaumenmus. Dazwischen kommt Besuch, nimmt Platz, kriegt was angeboten und schaut zu, wie Ida rührt.

"Weißt du schon, wo er liegen wird?"

Kopfschütteln.

"Ich würde eins von den Hanggräbern nehmen. Schon allein der Ansicht wegen. Unten in der Mulde liegst du den ganzen Winter im Nassen, nee, nee. Gleich morgen früh gehst du aufs Amt. Halbhöhenlage, die steht ihm zu, bei dem, was er für die Gemeinde getan hat, dein Max."

Kopfschütteln.

Ida hat sich vollweinen und vollaufen lassen, Kondulenzschreiben gesichtet, zur Entspannung Baßgeige gespielt, die Zwetschken geerntet, eine Pilgerreise ans Grab der Patriarchen erwogen, in der Dachbodenkammer die Regale voller Leitzordner, Ablagemappen, Zeitungsstapel und Notizbücher ihres ermordeten Mannes angestarrt, sie wird immer nur ermordet sagen, aber bisher keine Gelegenheit gesehen, die kleine Gemeinheit zu lancieren, die Klebe sich letztendlich hat einfallen lassen.

Der Held meiner heutigen Erzählung, der in Hofacker Manni Füller genannt wird, seit er einen hatte, holt den schwarzen, glänzenden Mercedes-Kombi mit den Mattglasscheiben aus der Mittelgarage, geht in Gedanken Klebes Außenmaße durch, kämmt sich die Sägespäne aus dem Bart, kommt zum Ergebnis, daß eigentlich genug lange Kisten auf Lager sein müßten, um Idas Ansprüchen zu genügen, streicht mit der Hand über das Wappen seines Standes im Milchglas, zwei gekreuzte Palmwedel und ein schlichtes Kreuz, prüft den korrekten Sitz des Zollstocks im Blaumann, fährt mit dem Taschentuch über die Inschrift auf der Fahrertür, Pietät Höhnemann, und schaut zum Himmel.

Wie wird das Wetter?

Wetter muß sein, es ist dramaturgisch unentbehrlich, verdeutlicht die Stimmungslage des Protagonisten und zeigt, ob der Erzähler Talent hat. Manche Autoren haben Zettelkästen, wo sie ihre Einfälle zwischenlagern: Originelle Vergleiche, metaphorische Bilder. Die Zettelkästler sind die Plattenbaumeister der Literaturgewerbes. Nicht nur Sargtischler arbeiten auf Vorrat.

Besonders zu empfehlen: Das Wetter bei Arno Schmidt. Es schlägt immer schönere Kapriolen. Soviel Wetter, so großartig formuliert, wie bei Arno Schmidt ist selten. Da macht sogar schlechtes Wetter Spaß.

Wie ist Manni Füllers Gemütslage momentan? Misanthropisch, wie immer. Hochgewachsen zwar, doch gekrümmt, hager und scheu umkreist Füller seinen Dienstwagen, und wagt kaum aufzuschaun, wenn man ihn anspricht.

"Hallo Füller, wie geht`s?" - "Du siehst, man lebt."

Ist das normal? Jeder weiß, Max Klebe ist tot. Füller geht hin, seiner Witwe seinen Sarg zu verkaufen. Warum ist der Leichensupporter so ein Miesepeter? Freut er sich nicht über die Geschäftslage?

Nicht zu vergleichen ist Füller mit seinem Vater. Ich glaube, er hieß Lebrecht, aber insgeheim nannten wir ihn Knochenbrecher. Lebrecht Höhnemann war von anderem Kaliber. Das gab es bei ihm nicht, daß ein Kunde nicht in den Sarg paßte.

"Hallo, Lebrecht, wie geht's?" - "Danke, kann nicht klagen. Gestorben wird immer."

Knochenbrecher sah man an, daß er die Morgenzeitung mit Vergnügen aufschlug: Jedes Erdbeben, jede Epidemie, jeder noch so ferne Krieg ein Gewinn für die Branche, die schon globalisiert war, als es das Wort noch gar nicht gab.

In Füllers Elternhaus schoben Leben und Tod abends einträchtig die Stinkefüße untern Küchentisch, auf dem die obligatorischen Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln, Dickmilch und Graubrot standen, denn was der Mann wegschaffte, schaffte die Mutter an.

Mutter Martha war Hebamme und zuweilen auch fürs Abtreiben zuständig: zwei Berufe, so anrüchig wie notwendig, die sie von ihrer Mutter Alma geerbt hatte. So kam sie zu ihrem Rufnamen, Almas Martha, der aber schon Alma Mater lautete, als ich im Spätherbst `45 nach Hofacker kam und gleich auch Füller, Ida, Icke und die anderen kennenlernte.

"Ach ja, ihr Jungen", seufzte die Alma Mater, wenn Füller und seine Brüder in kurzen Hosen auf der Holzkiste neben dem Küchenherd saßen, "man gebiert rittlings über dem Grabe."

Sie war so breit wie hoch, besaß einen mächtigen Busen, auf dem zuweilen ein paar Krümel lagen, die sie mit Knubbelfingern wegfegte, hatte eine hohe, klare Stirn, große rehbraune Augen und einen Dutt, aber in meiner Erinnerung spricht sie nur diesen einen Satz, wenngleich mit Variationen.

"Ach ja, ihr Jungen", sagt sie zum Beispiel auch, " ist das ein Leben! Man treibt sich rum um ein Grab, und zum Schluß fällt man eurem Vater in die Hände."

Manni Füller war der netteste Junge, den wir in der Klasse hatten. Er war der einzige, der einen Füller hatte, den er anstandslos verlieh, aber schon in dieser Großzügigkeit steckte etwas von seiner späteren Verklemmtheit. Es war die Zeit der Tauschwirtschaft, in der die Handwerker in Sachwerten entlohnt wurden - Zigaretten, Bohnenkaffee, silberne Krawattennadeln, Perserteppiche -, und so haftete Manni Füller etwas von den väterlichen Geschäften an, die auf dem Unglück anderer basierten.

Das ist nun fast fünfzig Jahre her, aber noch immer sehen wir Füller gebeugt im Schatten der alten Fachwerkhäuser entlangschlappen, und wenn es nur darum geht, ein paar Fenster oder eine neue Haustür aufzunehmen.

"Du solltest mal zum Psychiater", sagt seine Frau, die dicke Inge, um ihn zu trösten. "Wer denkt schon an seinen Tod, wenn er dich sieht? Nichts verdrängt der Mensch so gerne wie den Gedanken an seine Sterblichkeit. Lächele, geh aufrecht, schau ihnen ins Gesicht. Dann kommt keiner auf den Gedanken, du könntest denken, sie dächten, du würdest immer nur daran denken, wie lang und dick sie sind und ob du nicht schon mal vorsorglich eine Kiste anfertigen solltest."

"Das stimmt nicht", seufzte Herr Manni. "Wenn sie mich sehen, denken sie alle, daß ich nur darauf warte, daß sie endlich abkratzen. Ich spüre es. Das sagt mir mein Gefühl. Ich brauche ihnen nur ins Gesicht zu sehen, und schon machen sie in Gedanken drei Kreuze."

"Aber Manni", erwidert die dicke Inge."Wer denkt denn so was. Jeder im Ort hat ein Balkongeländer oder eine Treppe, die du gebaut hast. Du bist nicht nur Sargtischler."

Dann schweigt Füller, denn er weiß es besser. In seinem schwarzen Sargwagen träumt er manchmal, alle Fassaden sind schwarz verhangen, an hohen Masten wehen rote Fahnen und alle Bewohner stehen schon vor ihren Häusern und tragen weiße Nachthemden.

Er tritt zu ihnen, berührt sie an der Schulter mit seinen langen, knochigen Fingern, und danach braucht er sie nur noch einzusammeln. Er weiß, er wird erst Ruhe haben, wenn sie alle in seinen Särgen liegen.

Aber lassen wir das. Schicken wir ihn jetzt zu Ida Schindehütte. Es hat wirklich keinen Zweck sich lange bei solchen Menschen aufzuhalten. Nur eins muß der der Neid ihm lassen: Er hat einen schönen Leichenwagen.

Nächste Woche: "Dialogus inter pastores"