Alles eine Frage der Kultur

Kaum sind die Arbeitslosen aufgetaucht, ist ihr Spektakel auch schon wieder vorbei. War der Aktionstag nur ein Medien-Event, wird schon bald mehr zu sehen sein? Oder ist die sanfte Empörung erstmal verschoben, bis Jagoda die nächste Pleite meldet?

Endlich sind sie da, die Arbeitslosen. Spätestens seit dem Beginn der französischen Bewegung war es nur eine Frage der Zeit, bis sie auch hier in Erscheinung treten würden. "Irgendwann ist die Geduld des friedlichsten Zeitgenossen erschöpft", meint selbst die der Subversion gänzlich unverdächtige Augsbuger Allgemeine. Verwunderlich ist eher, daß die Proteste so lange auf sich warten ließen - und sie bisher so ordentlich verliefen. Denn für Erbitterung gibt es genügend Gründe: Rekordarbeitslosigkeit, verschärfte Sozialgesetze und vor allem wenig Hoffnung auf Änderung.

Dabei spiegeln die Meldungen der Bundesanstalt für Arbeit - Anstoß für den Aktionstag - nur einen Teil der prekären Lage wieder; zu den offiziell registrierten fünf Millionen Arbeitslosen kommen mindestens weitere drei Millionen hinzu. Wer in Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen steckt, in Umschulungen versauert, an Heim und Herd verbannt wurde oder als Jugendlicher noch nie Leistungen vom Amt bezogen hat, taucht in der Statistik erst gar nicht auf. Die reale Arbeitslosenquote dürfte sich damit bereits jenseits der 20 Prozent-Marke bewegen. Und selbst derjenige, der seinen Arbeitsplatz noch hat, lebt damit nicht unbedingt besser. Die "working-poor" sind mittlerweile auch hier selbstverständlich, Löhne und Gehälter, die nur knapp über dem Sozialhilfesatz liegen, im Osten inzwischen weit verbreitet. In Thüringen stellt der Einzelhandel beispielsweise ein Drittel seines Personals auf der Basis versicherungsfreier 610-Mark-Jobs ein.

In allen Kommentaren wird daher geklagt, die Lage zwischen Rostock und Dresden sei besonders dramatisch. Nach dem Wegbrechen der industriellen Basis beschränkt sich die Akkumulation in den neuen Bundesländern auf wenige neue produktive Inseln wie etwa das Opel-Werk in Eisenach. Ansonsten dümpeln durchschnittliche Produktivität und Kapitalausstattung je Arbeitsplatz bei 60 Prozent des Westniveaus dahin. Die meisten Jobs sind noch im Dienstleistungssektor zu finden. Allerdings: "Die Menschen in den neuen Ländern können nicht davon leben, sich gegenseitig die Fußnägel zu schneiden und die Haare zu frisieren", hatte Robert Kurz bereits Anfang der Neunziger vorausgesagt. Mit Video-Läden, Imbißbuden und Einkaufscenter läßt sich kein Wirtschaftswunder produzieren, erkannte kurz darauf auch der Chef von Carl-Zeiss Jena, Lothar Späth.

Und der Abschwung Ost ist noch lange nicht am Ende. Nach der Deregulierung in der privaten Wirtschaft kommt nun auch der "schlanke Staat" hinzu. Bis zu 40 Prozent der Stellen im öffentlichen Dienst seien überflüssig, 200 000 Beschäftigte könnten im Osten noch entlassen werden, erklärte kürzlich das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Die Arbeitslosenrate könnte dort in diesem Jahr nochmals um zehn Prozent steigen - werden die Verluste durch Subventionsabbau und weitere Rationalisierungen einbezogen, sind in den nächsten Jahren weitere 500 000 Arbeitslose zu erwarten, ergab eine Studie des Instituts.

Was tun, wenn in manchen Regionen das Verhältnis von Erwerbslosen und Beschäftigten vielleicht bald ausgeglichen ist? Insbesondere die Zahl der Langzeitarbeitslosen steigt ständig; die Kommunen, die jetzt schon vor der Pleite stehen, können einen weiteren Anstieg der Sozialausgaben nicht mehr finanzieren.

Die Bundesregierung setzt auf Angebotspolitik - sind die Arbeitskosten nur gering genug, so stelle sich die Nachfrage schon von allein ein. Diesem Argument haben sich auch die Gewerkschaften mit ihrem Lohnverzicht bisher weitgehend gebeugt. Doch um attraktives Gut zu werden, muß die Arbeitskraft noch billiger werden - so billig, daß das heutige Sozialhilfeniveau schnell erreicht sein könnte. Wird dieser Weg fortgesetzt, ist die weitere Kürzung von Sozialleistungen die logische Folge.

Ein Vorbild könnte das "welfare to workfare" Programm der US-Regierung sein. Seit 1997 in Kraft, erhalten nun erwachsene, "arbeitsfähige" Sozialhilfeempfänger keine Unterstützung mehr, ab 1999 wird dies auf die restlichen Bezieher ausgedehnt. So sollen alleinerziehenden jungen Müttern Niedriglohnjobs angeboten werden - lehnen sie ab, entfällt die weitere staatliche Alimentierung. Die Löhne orientieren sich hier am Sozialhilfesatz, nur ein Viertel der Jobs sind davon nach Schätzungen der US-Bürgermeister krankenversichert. Die deutschen Unternehmer sind seit geraumer Zeit dabei, das US-amerikanische "Job-Wunder" als Ausweg aus der Misere zu propagieren. Arbeit statt Sozialhilfe - die Verschärfung der Sozialgesetze, Ausweitung der Arbeitspflicht und Überlegungen zu "Kombi-Löhnen" weisen in diese Richtung. Der einzige Fehler sei, erklärte Bundeswirtschaftsminister Rexrodt angesichts der Arbeitslosenzahlen, daß die Deregulierung noch "nicht konsequent genug umgesetzt wird".

Die Erwerbslosenverbände fürchten die Fortsetzung dieser Politik, die gänzlich auf ihre Kosten ginge. Sie fordern eine Nachfragepolitik, durch die die Kaufkraft endlich wieder stärker werden soll. Dazu zählen auch Vorschläge wie die Einführung eines Existenzgeldes oder die Grundsicherung, wie sie von Grünen, der PDS und in Erwerbsloseninitiativen diskutiert werden. Dieser wiederbelebte Keynesianismus aus den siebziger Jahren bietet allerdings eine sehr zweifelhafte Perspektive - nicht nur weil er gegen den Wirtschaftsliberalismus a la Schröder kaum durchzusetzen ist. Denn wie die Staatsdefizite erhöht werden können, ohne den Euro aufs Spiel zu setzen, weiß niemand so recht zu sagen. Ebensowenig, wie sich die Unternehmer angesichts weiterhin relativ hoher Sozialausgaben verhalten würden.

Was den Erwerbslosen blüht - US-amerikanische oder französische Verhältnisse -, hängt davon ab, welchen Druck sie entfalten können. Die Erbitterung artikuliert sich bisher noch sehr verhalten, nicht zuletzt aufgrund ausgesprochen deutscher Ordnungsliebe. Der Chef des Arbeitslosenverbandes, Klaus Grehn, erklärte angesichts der etwas rabiateren Demonstranten in Berlin: "Die Proteste müssen kulturvoll bleiben".