22. Dialogus inter pastores

Fortgesetzte Erzählungen

Der Tod Max Klebes beschäftigte auch die zwei Seelsorger von Hofacker.

"Er war Jude, lieber Amtsbruder", insistierte Pfarrer Amerly, ein zierlicher, quirliger Jesuitenschüler um die Siebzig. "Warum sonst sollte er verfügt haben, auf einem jüdischen Friedhof bestattet zu werden?"

Ihm gehörte die kleine katholische Kirche am Pulvergraben, die eher wie ein Hühnerstall aussah.

"Aber, lieber Bruder im Herrn!" widersprach Pfarrer Debius d.J., ein Hagestolz um die Sechzig, der immer ein wenig stotterte, wenn man ihm widersprach.

"Was ist ein Jude? Woher wollen Sie wissen, daß er einer war?"

Er predigte seit drei Generationen in der mittelalterlichen Stadtkirche am Marktplatz, die aber nur zu den ökumenischen Gottesdiensten besucht wurde, wenn Bruder Amerly, der kölnisch sprach, die im Stil der Weserrenaissance erbaute Kanzel in eine rheinische Bütt verwandelte.

Bruder Amerly besaß auch eine junge, pummelige Haushälterin, die zwar schwarzhäutig, jedoch gebürtig aus Welschbillig war, was die Leute komisch fanden - schon der Name: Welschbillig -, während Debius d.J. sich mit einer Frau aus Hümme behelfen mußte. Hümme war bitter.

"Ich sage nur, er muß einer gewesen sein", beschwichtigte ihn Hochwürden Amerly. "Waren Sie mal auf einem jüdischen Totenacker? Nichts für Auge und die übrigen Sinne. Die reinste Brache. Keine Erde, keine Blumen, kein Schmuck. Unsere christlichen Ruhestätten sind arkadische Gefilde dagegen. Geradezu paradiesisch, trotz der modernen Grabpflege. Nee, nee, wer auf dem Judenfriedhof liegt, will wirklich nur überwintern. Da kriegen Sie garantiert keinen Besuch und warten täglich aufs Jüngste Gericht."

"Ich begreife es trotzdem nicht. Da lebt einer vierzig Jahre in meiner Gemeinde und wagt es nicht einmal, eine Andeutung zu machen. Warum? Warum hat er nie gesagt, daß er Jude war?"

"Er war im Hauptberuf Führer im Museum Wilhelmshöhe. Was da zu sehen ist auf manchen Bildern: Blutbäder, Massaker, Feuersbrünste, Vertreibungen mit Schimpf und Schande. Das prägt den Menschen."

"Sie meinen, er hat aus Bequemlichkeit geschwiegen?"

"Auch das. Wer in der Diaspora schmachtet, weiß, wie ungemütlich es sein kann, in einer protestantischen Gemeinde zu leben. Da können die Erbauer meines Kirchleins ein Lied von singen, die nach '45 hier angesiedelt wurden."

"Das waren Katholiken."

"Wollen Sie sagen, wenn die Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten Juden gewesen wären, hätten die Schäfchen Ihres verehrten Herrn Vaters, Gott hab' ihn selig, sie mit offenen Armen aufgenommen?"

"Den Haß auf Juden und Mohammedaner haben die Katholiken des späten elften Jahrhunderts erfunden, nicht wir!"

"Ich weiß, ich weiß. Die Reformatoren des frühen sechzehnten Jahrhunderts haben ihn nur von uns übernommen. Obwohl, ich muß sagen, ihr wart gelehrige Schüler."

"Wem sagen Sie das, lieber Bruder im Herrn. Ein trauriges Kapitel christlicher Glaubensstärke, an dem alle Konfessionen zu tragen haben. Auch ich würde lieber zur Kategorie der Opfer gehören, dann bräuchte man sich keine Vorwürfe zu machen. Aber bedenken Sie: Gerade deshalb wäre es Klebes Pflicht gewesen, seinen Glauben zu bekennen und seinen Mitbürgern freimütig zu gestehen: Jawoll, ich bin Jude. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Kein Mensch kann aus seiner Haut."

"Warum hätte er das tun sollen? Um sich sein Leben lang Vorwürfe zu machen?"

"Um seinen christlichen Mitbürgern Gelegenheit zu geben, ihm zu beweisen, daß sie sich gebessert haben. Damit er endlich begreift: Sie sind keine Mörder mehr. Vielleicht noch ein bißchen antisemitisch, aber keine Mörder mehr. Wir haben dazugelernt."

"Und was, bitte?"

"Auch der Jude ist ein Mensch wie du und ich, der sich in nichts von seinen Mitmenschen unterscheidet."

"Solange er nicht den Samstag mit dem Sonntag verwechselt."

"Am Samstag arbeitet heute keiner mehr. Da hat jeder seine eigene Baustelle."

"Dann sagen wir: So lange er keine Schläfenlöckchen trägt, keine Bindfäden am Gürtel, keine Käppi beim Essen und nicht in die Synagoge geht."

"Sie sind ein Spötter, Herr Kollege. In Hofacker gibt es seit fünfzig Jahren keine Synagoge mehr. Die wurde bereits 1938 eingeäschert. Aber Ihre Bemerkung ist nicht ganz falsch. Warum seine Mitmenschen unnötig provozieren? Wir Christen tragen unsere Religion ja auch nicht wie eine Uniform durch die Gegend. Der Jude macht so viel Wesens um seine drei Kinkerlitzchen."

"Sie sagen also, werter Amtsbruder, der Antisemitismus der Christen rühre im wesentlichen daher, daß die Juden immer soviel Aufhebens von ihrer Religionszugehörigkeit machen?"

"Ich sage nur, was schon Kant sagte: Lebe stets so, daß dein Leben auch von deinen Mitbürgern gelebt werden könnte. Man muß nicht um jeden Preis auffallen."

"Also Schweinefleisch essen, sich Judenwitze erzählen, keine Wucherzinsen berechnen."

"Jetzt übertreiben Sie. Der Fleischverbrauch ist allgemein rückläufig, Judenwitze erzählt man sich quasi nur noch in Judenkreisen, und Wucherzinsen nimmt heutzutage jede Raiffeisenkasse."

"Aber, dann hat er doch alles richtig gemacht, Ihr Max Klebe! Ist Ihnen nie der Verdacht gekommen, er könnte Jude sein, wenn er sich so unauffällig benommen hat?"

"Dann hätte ich die halbe Stadt verdächtigen müssen."

"Warum nicht?"

"Sie meinen, er war vielleicht nicht der einzige?"

"Ich möchte wetten. Bestimmt ging er auch in die Kirche."

"Max Klebe?"

"Ja, Klebe."

"Gott, das ergab sich praktisch aus seiner sozialen Stellung. Zu Hochzeiten und Kindstaufen oder an den üblichen Festtagen vielleicht mal. Aber sonst?"

"Na, bitte, was werfen Sie ihm dann vor? Er hat so getan, als wäre er kein Jude. Genau das, was Sie von einem guten Juden verlangt haben."

"Das besagt noch lange nicht, daß er einer war, lieber Kollege."

"Also gut, er war keiner. Warum fragen Sie nicht seine Witwe. Sie sind praktisch ein Jahrgang."

"Ja, praktisch."

"Vielleicht sogar zusammen konfirmiert worden."

"1947 bei meinem Vater."

"Na bitte. Jetzt nehmen Sie sich ein Herz und fragen Sie Frau Klebe, ob ihr Mann beschnitten war. Dann wissen Sie es."

"Aber, werter Herr Amerly."

"Was ist, Herr Debius? Die Beschneidung des Mannes ist die klassische Definition des Juden. Erster Mose, 17. Kapitel, Vers 10: Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt. Alles, was männlich ist, soll beschnitten werden. Ergo: Was nicht beschnitten ist, ist kein Jude."

"Und die Frauen?"

"Frauen werden nicht beschnitten, können also keine Juden sein, sondern das Judentum nur apportieren, das ihnen durch ein beschnittenes Transportinstrument anvertraut wird. Wie der Philosoph sagt: So, wie Wasser und Mehl durch das Wunder der Transsubstantation in den Leib des verklärten Christus verwandelt werden, wandelt der männliche Same, der ein beschnittenes Glied durchströmt, sich in einen jüdischen.

Die Juden sind eben ein sinnenfrohes Völkchen, das gerne liebt, während wir Christen mehr zu Askese und Kannibalismus neigen."

"Kannibalen? Wir?"

"Lesen Sie Abälard, Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen, wobei Abälard die Rolle des Philosophen einnimmt, was damals gleichbedeutend mit Moslem war. Interessante Zeit, frühes zwölftes Jahrhundert. Von finsteres Mittelalter keine Spur."

"Abälard."

"Bretone, überragender Denker, sehr witzig und selbstironisch. Begründete die These, daß Juden, Christen und Mohammedaner sich tolerieren müßten."

"Immer diese Toleranzgeschichten. Und da steht, wer nicht beschnitten ist, sei kein Jude?"

"Das sagt der Jude. Nur ein beschnittenes Geschlechtsteil kann einen Juden erzeugen, behauptet er. Der Philosoph hält das natürlich für Mumpitz. Dabei ist er ärger beschnitten, als alle Juden und Mohammedaner zusammen."

"Da muß ich gefehlt haben."

"Nicht schlimm, mein Lieber. Ist auch nichts für Pietisten. Abälard war Hauslehrer und hatte eine siebzehnjährige Schülerin geschwängert, gewisse Helo•se, auch sie später eine der Geistesgrößen ihrer Zeit."

"Und dafür wurde er beschnitten?"

"Kastriert, mein Herr, in einer Nacht- und Nebel-Aktion. Man nannte das 'Talionsrache'."

"Interessant, interessant."

"Das kann uns nicht passieren."

"Dann war Klebe vielleicht doch Jude."

"Wenn seine Witwe das sagt. Aber nun verraten Sie mir eins, lieber Debius. Warum interessiert Sie das überhaupt?"

"Ja, wissen Sie denn nicht, daß Klebe ums Leben kam?"

"So weit ich weiß, geriet er zwischen zwei verfeindete Jugendgruppen und bekam einen Stein an den Kopf. Entsetzlich, entsetzlich. Aber das kann jedem passieren."

"Schon, jedem. Aber es ist etwas anderes, ob es einem Juden passiert oder einem Nichtjuden. Zumal in der heutigen Zeit."

"Das war früher anders."

"Gottseidank."

"Also, wo ist das Problem?"

"Das Problem ist, aus welcher Richtung kam der Stein."

"Nicht die Frage, ob er Jude war?"

"Beides. Ich zeig's Ihnen, Herr Amerly. Hier, die Teetasse, das sind die jungen Türken, also Mohammedaner, die Hände voller Steine, und hier, das Bierglas, da hocken die Einheimischen, auch voller Steine, und dazwischen gerät, völlig ahnungslos, unser Freund Klebe!"

"Aber, lieber Debius! Da haben Sie doch den Beweis, daß er Jude war. Juden und Moslems sind zwar Cousins, während wir Christen nur eine etwas zu groß geratene jüdische Sekte sind, aber der Abfall fällt nicht weit vom Stamm, wie der Volksmund sagt. Die Äquidistanz der Gefühle, die Christen und Mohammedaner für einen Juden hegen, ist immer konstant!"

"Ja, und wer hat den Stein jetzt geworfen?"

"Das ist keine religionsphilosophische Frage, lieber Bruder im Herrn. Das muß sich an der Kopfwunde feststellen lassen: Wo ging er lang, auf welcher Kopfseite liegt die tödliche Wunde."

"Eben nicht. Man weiß zwar, von wo er kam und wohin er ging, aber er könnte sich im Augenblick des tödlichen Steinwurfs noch einmal umgedreht haben."

"Das ist richtig, ändert jedoch nichts an der Tatsache: Da nur Christen oder Muslime als Täter in Frage kommen, muß Klebe ein Jude gewesen sein."

"Und der Steinwerfer war Türke."

"Strafbar ist keiner. Formaljuristisch."

"Ach, ja?"

"Nächste Woche: "Kapitel 71"