Organisierte Spontaneität

Der Frohsinn ist das Pendant zum schlechten Leben

Ein Karnevalswitz: "Wissen Sie, warum die Menschen im Rheinland so schmale Biergläser haben? - Damit sie beim Fasching nicht die Pappnase reintunken." Höhöö. Höhöö. Tusch. Eigentlich reicht das ja schon, aber bei Bedarf lassen sich noch beliebig viele andere Argumente gegen den Karneval finden. Man muß nur einem Verfechter des organisierten Frohsinns drei Minuten lang zuhören. Der Spaß, die zwanglose Ausgelassenheit, die dort beschrieben wird, erinnert an das, was sich in vielen Kleinstädten und Dörfern abspielt, wenn das jährliche Schützenfest gefeiert wird. Männer marschieren, Männer trinken, Männer pissen und kotzen ins Gebüsch. Traditionen müssen aufrechterhalten werden!

Gerne verweisen rheinländische Frohnaturen auf den liberalen Geist, der dort mit Napoleon früher Einzug gehalten habe als anderswo. Schon vor geraumer Zeit versuchte der russische Literaturwissenschaftler Bachtin, den subversiven Charakter des Karnevals zu beweisen: Die bourgeoise Hochkultur werde durch die niederen Instinkte des Volkes unterwandert. Vielleicht mag das woanders gelten, in Deutschland aber verbünden sich die schlechtesten Eigenschaften der Oberen mit denen der Unteren. Im Nazi-Reich gehörten Juden-Karikaturen selbstverständlich zu den Rosenmontagsumzügen.

Zugegeben: Der Karneval greift nicht nur auf reaktionäre Traditionen zurück. Im italienischen Karneval des Spätmittelalters fand eine regelrechte Landnahme der unteren Schichten statt, mit der die Oberen zur Herausgabe von etwas mehr als nur ein paar ollen Kamellen bewegt werden konnten. Dort wurden schlaraffische Utopien und paradisiesche Phantasien für einige Tage aus dem Kopf auf die Straße verlagert. Die Suche nach dem diesseitigen Paradies war zum einen religiös motiviert, zum anderen ein Fluchtreflex auf unerträgliche Zustände, die bei viel Arbeit viel Hunger bedeuteten. Das Schlaraffenland und seine symbolische Umsetzung im Karneval verhießen genau das Gegenteil davon: eine gesicherte Grundrente und prima Umverteilung von oben nach unten.

Im deutschen Karneval ist davon nicht mehr viel zu spüren; hier feiert die organisierte Spontaneität ihren Höhepunkt. Das Amusement, so Siegfried Kracauer, sei ebenso perfekt organisiert, wie der graue Alltag der Angestellten. Wer zum Kollektiv gehören will, muß den Frohsinn ebenso ausgelassen teilen, wie er die restliche Zeit zu funktionieren hat. Ganz abgesehen von der Frage, wie man hierzulande Marschmusik und Uniformen lustig finden kann.

An alles ist gedacht; sogar ein Alternativ-Karneval exisitiert, voll korrekt können auch kritische Geister zwischen den Sketchen über Fremdarbeiter oder die Entführung von Hanns Martin Schleyer schunkeln und saufen. Das Schlimmste dabei: Der penetrante Frohsinn ist längst nicht mehr auf Karneval beschränkt; am Christopher Street Day oder der Love Parade strömen mittlerweile ähnlich viele Menschen auf die Straßen wie zu Rosenmontagszügen. Wer sich hier noch auf die subversive Tradition beruft, macht sich höchstens bei PR-Beratern der Stadtverwaltung beliebt. Oder bei Ethnologen.

Die könnten beim freilaufenden Straßenkarneval, dem man nicht entkommen kann, Feldstudien betreiben. Z.B. bei Menschen, die an der Strecke des Karnevalszuges wohnen, und nicht mal mehr ausschlafen können, denn spätestens ab 10 Uhr stehen betrunkene Haremsdamen, Clowns, Cowboys und Piratinnen vor dem Haus und randalieren. Wenn der Zug endlich kommt, trampeln sie auf der Suche nach den Gratis-Bonbons aus Billiglohnländern den Vorgarten platt, und nur, wenn man Glück hat, hat am Ende niemand dort hingekotzt - diese karnevalstypische Mischung aus Wurst, Bonbons, Whisky-Cola, Pommes, Bier und für was immer sonst noch Platz war.

Aber vor oder nach dem Karnevalszug muß man noch eine Menge mehr ertragen, denn die verkleidete Masse will fünf Tage lang die Sau rauslassen und tut das auch. Die Sau rauslassen bedeutet auch - wenn der Saurauslasser männlich ist -, so viele Frauen wie möglich anzufassen. Das geht ungefähr so: Eine Frau, durch Nichtverkleidung deutlich als jemand gekennzeichnet, der mit dem Karneval nichts zu tun haben will, geht über die Straße. An der Ecke hat sich schon ein Trupp mittelalter Männer versammelt, und schon geht's los: Die Frau wird gestoppt, aufgefordert, die nach Schnaps stinkenden Indianer, Geheimagenten und Seemänner zu küssen. Die sind wild entschlossen, das Wort "Nein" nicht mehr zu verstehen, deswegen folgt ein Ringkampf mit ein bißchen Eiertreten, viel Gemecker: "Bist du aber prüde! Stell dich nicht so an, ist doch schließlich Karneval!" und kurzem Wehgeschrei.

Und so erzieht Karneval zu vorausschauendem Denken, denn man muß mindestens fünf Tage so durchplanen, daß man nicht aus dem Haus zu gehen braucht. Das ist aber auch schon das einzig Gute, was man über diese Veranstaltung sagen kann.

Der Zwang zur guten Laune hat nichts Subversives, der kollektive Ausbruch an Fröhlichkeit ist nur das Pendant zum schlechten Leben.