Geklonte Feigenblätter

Von der Ratifizierung der Europäischen Bioethik-Konvention profitiert vor allem der biomedizinisch-industrielle Komplex. Eine Tagung in Bonn zeigte: Auch Aktivisten sind für politischen Widerstand kaum zu haben

50 Jahre ist der Nürnberger Kodex alt geworden. Erstmals hatten diese Verhaltensregeln für Mediziner, die aus der juristischen Aufarbeitung der bestialischen Experimente an Menschen in der Nazi-Zeit resultierten, festgelegt, daß medizinische Versuche an Menschen von deren expliziter Zustimmung abhängig sein müssen. Mit dem Ratifizierungsprozeß der im April 1997 von 22 von 40 Mitgliedern des Europarates unterzeichneten Bioethik-Konvention des Europarates wird der Kodex lautlos entsorgt. Die Konvention, die in ihrer aktuellen Fassung den Namen "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" trägt, markiert die Aufkündigung eines jahrzehntelangen Konsens, somatische und psychosoziale Elemente in die medizinische Betrachtung des Menschen einzubeziehen. Sie bereitet den radikalen Durchbruch einer Gen-Medizin vor, die ihren explosiven Bedeutungszuwachs nicht vorrangig gesellschaftlicher Nachfrage verdankt, sondern der Investmentpolitik der Konzerne.

Die Bioethik-Konvention beansprucht, sämtliche Problemfälle der modernen High-tech-Medizin zu regeln. Sie verbietet weder die Weitergabe von Gentest-Ergebnissen an nicht-medizinische Institutionen wie Arbeitgeber oder Versicherungen, noch schließt sie sogenannte verbrauchende Embryonenforschung und Eingriffe in die menschliche Keimbahn aus. Artikel 17 der Konvention behandelt die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen, an Neugeborenen, schwerstkranken und bewußtlosen Patienten sowie Menschen mit geistiger Behinderung. Der Schutz des einzelnen wird darin ausdrücklich dem größeren Ganzen unterworfen, das man derzeit noch als "spürbare Verbesserung des wissenschaftlichen Verständnisses für die Krankheit" buchstabiert. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird so zum Abwägungsgut, wie es vor kurzem bereits die Deutsche Forschungsgemeinschaft in einer Denkschrift einforderte: "Zu bedenken ist, daß das Zurücktreten z.B. des Grundrechts auf Leben gegenüber dem Grundrecht auf Forschungsfreiheit z.B. zur Entwicklung von Therapiemöglichkeiten geboten sein kann." Erst im November vergangenen Jahres hatten die Mitgliedsstaaten der Unesco deren Deklaration über "Das menschliche Genom und die Menschenwürde" einstimmig angenommen, die unter anderem die Keimbahnintervention, das Klonen von Embryonen und die Genomforschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen zuläßt.

Medikamentenversuche werden mit beiden Konventionen ebenso gerechtfertigt wie invasive Forschung an Komapatienten zur Verbesserung der Intensivmedizin oder an Kindern zur Entwicklung von Impfstoffen. Der riesige Markt, der sich etwa im Bereich der Aids- oder Alzheimerforschung entwickelt, wird sich kaum mit einem maximalen Schutz der Kontrollgruppen bescheiden. Diesem konzertierten Angriff von Wissenschaft und Bioindustrie auf Behinderte versuchen sich deren Interessenverbände seit zwei Jahren entgegenzustellen - in einem Kampf, der zunehmend aussichtslos erscheint. Diese Erkenntnis muß als Fazit eines Fachforums "Menschen mit Behinderungen in der biomedizinischen Forschung und Praxis" angesehen werden, zu dem Anfang vergangener Woche die Lebenshilfe e.V. und der Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der "Euthanasie" und Zwangssterilisation ins Wissenschaftszentrum nach Bonn geladen hatte.

Es gelte, so betonte der Psychiater Klaus Dörner einleitend, über das "übliche Gejammer hinaus das Heft in die Hand zu bekommen". Das Heft in der Hand hat allerdings eine große Koalition, die im Bundestag die Konvention verabschieden wird, und auf der Tagung durch ihre obligatorischen Feigenblätter von Schwarz bis Grün vertreten war. "Wir bleiben miteinander im Dialog", rief zur Mittagsstunde des zweiten Tages eine gutgelaunte Rita Süssmuth, Schirmherrin der Veranstaltung, den 250 Leuten im Saal mit jovialem Lächeln zu. Eine knappe Stunde Zeit hatte sie mitgebracht, um sich von einigen universitären Sachverständigen mit Argumenten gegen die Bioethik-Konvention munitionieren zu lassen. Es sei "mehr Sorge", die sie in Opposition zur Bioethik-Konvention treibe, berichtete Frau Süssmuth. Doch auch die Bundestagspräsidentin ließ keinen Zweifel daran, daß nur noch die selbst auferlegte Schamfrist vertreichen muß, bis auch die Deutschen sich der europäischen Bioethik-Gemeinde anschließen. Für den 25. März steht die Anhörung vor dem Rechtsausschuß an, und nach einer taktvollen Schweigeminute wird dann wohl unterzeichnet werden.

Da Bioethik-Konvention und Unesco-Deklaration, die auf einen Paradigmenwechsel in der Medizin hinauslaufen, auf dem Hintergrund der Dynamik der Kapitalakkumulation zu kritisieren seien, sollte der Protest eine politische Perspektive haben, betonte der Berliner Soziologe Rainer Hohlfeld im einzig erwähnenswerten Vortrag des gesamten Forums. Die Biomedizin läute eine Re-Ideologisierung der Medizin ein, die ein reduktionistisches Menschenbild und die Verdrängung alternativer Ansätze forciere, weil die Zauberformel heute laute: "Innovation = Fortschritt = Genetik". Die Förderung der Genetik beruhe nicht etwa auf allseits durchschlagenden Erfolgen. Tatsächlich trete die somatische Gentherapie seit 15 Jahren auf der Stelle. Real diene die "Förderung dieser investiven Medizin zur Steigerung des shareholder value". Wissenschaft, Kapital und Ideologie seien zu einem "biomedizinisch-industriellen Komplex" vernetzt, wie er sich idealtypisch im Branchengiganten Novartis, der Fusion aus Ciba und Sandoz, darstelle. Diesem Projekt eines lebensumspannenden "Bio-Ingenieurwesens", das heute die Bereiche Pharma, Ernährung und Agrobusiness auf sich vereine, ernsthaft Widerstand leisten zu wollen, heiße, die altmodische Systemfrage zu stellen.

So genau wollten es die Anwesenden auf der Tagung gar nicht wissen. Lieber lauschte man den Ausführungen des Theologen Hans Grewel zu einer Ethik aus Erfahrung, die das Leben, ein "staunenswertes Wunder", als Leben "vom anderen her" deutet, und applaudierte der penetranten Lebensschützer-Attitüde eines Hubert Hüppe (CDU). Vertreter der Behindertenbewegung wie Theresia Degener und Udo Sierck kritisierten die Veranstaltung darum als "beredtes Zeugnis einer traditionellen Stellvertreterpolitik".