Hippokrates gratis

Wenn illegale Flüchtlinge krank werden, sind sie auf das Wohlwollen von Medizinern angewiesen. In Niedersachsen sollen sie nun kostenlos behandelt werden

"In Neu-Delhi setzen sich todkranke Inder ins Flugzeug, weil sie wissen, in Frankfurt wartet schon der Krankenwagen auf sie." Mit Blaulicht gehe es dann in eine Spezialklinik, wo schon eine Kapazität mit dem Skalpell in der Hand warte, um sie aufzuschneiden. "Auf unsere Kosten." Nach der Behandlung verschwänden die Inder, ohne zu zahlen, auf Nimmerwiedersehen. Das alles dürften Journalisten nicht verschweigen, sagt der Hauptgeschäftsführer der hessischen Ärztekammer. Eigentlich müßte Dr. med. Michael F.R. Popovic in der Lage sein, die Frage mit einem einfachen "Ja" oder "Nein" zu beantworten: "Hat die hessische Ärztekammer einen Beschluß gefaßt, illegale Flüchtlinge, also Menschen ohne Papiere, die von Abschiebung bedroht sind, anonym und kostenlos zu behandeln?"

Die wohl die ersten und bislang einzigen, die dazu aufrufen, Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus zu unterstützen, sind Ärzte in Niedersachsen. Die Vorsitzenden anderer Ärztekammern wissen zur Krankenversorgung für illegalisierte Flüchtlinge gar nichts zu sagen. Und das, obwohl in der BRD schätzungsweise eine halbe Million Menschen ohne jegliche Krankenversicherung auskommen müssen. Unisono verweist man bei der Standesvertretung der Ärzteschaft in Hamburg, bei der Ärztekammer Nordrhein und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Ärztekammern in Bonn auf den Hippokratischen Eid und das Strafgesetzbuch, wonach alle Ärzte Nothilfe leisten müssen. Die Berliner dagegen kennen das Problem und wimmeln nicht gleich ab. Ca. 100 000 sogenannte Illegale leben nach Aussagen der Ausländerbeauftragten Barbara John in Berlin. Dennoch bezeichnet Sybille Golkowski, Sprecherin der Berliner Ärztekammer, den niedersächsischen Vorstoß als Sonntagsrede: "Das kann ja jeder beschließen." Aber bisher hat es außer der niedersächsischen Ärztekammer niemand getan.

Die Allgemeinmedizinerin Dr. Cornelia Goesmann aus Hannover ist diejenige, die den Stein ins Rollen gebracht hat. Ihr Antrag, sogenannte illegale Flüchtlinge zu unterstützen, ist schon im November letzten Jahres von der niedersächsischen Ärztekammer beschlossen, aber bisher nicht veröffentlicht worden. Doch am 7. Februar wurde Dr. Goesmann als erste Frau in der Geschichte der Kammer ins Präsidium berufen. Jetzt will sie sich, kraft ihres neuen Amtes, um die Veröffentlichung kümmern. "Das Wesentliche ist, daß allen klar wird, daß solche Menschen überhaupt existieren. Und daß die natürlich auch medizinische Hilfe brauchen, dafür aber nicht bezahlen können, weil sie nirgendwoher Geld bekommen." Wenn das in die Köpfe der Ärzte gedrungen sei, hofft sie, "ist die Behandlung auch kein Problem mehr".

Niedersächsische Flüchtlingsinitiativen begrüßen den Beschluß, befürchten aber, daß er nur Appellcharakter besitzt. Notwendig wäre eine Koordinationsstelle, die beispielsweise kranke Flüchtlinge, die von Abschiebung bedroht sind, vertraulich an Fachärzte vermitteln könnte. Denn: "Man kann niemandem empfehlen, zu einem x-beliebigen Arzt zu gehen", sagt Matthias Lange, Vorsitzender des niedersächsischen Flüchtlingsrats. "Die Leute sind natürlich mißtrauisch und ängstlich." Endstation ist für viele Hilfesuchende schon die Sprechstundenhilfe, die nach Namen, Adresse und der nicht vorhandenen Krankenversicherungskarte fragt.

Göttinger Medizinstudenten versuchen jetzt die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zumindest in der niedersächsischen Uni-Stadt aufzuheben. Sie wollen ein Büro zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen einrichten. Mit dem Text des noch geheimen Beschlusses der niedersächsischen Ärztekammer in der Hand versuchen sie derzeit, Ärzte für ein Netzwerk zur medizinischen Versorgung von illegalen Flüchtlingen zu gewinnen. Bisher sei die Resonanz gut, sagte eine Sprecherin des Büros. "Wir benötigen aber noch weitere Unterstützung, insbesondere von Fachärzten." Die Räume des Flüchtlingsberatungszentrums in der Göttinger Fußgängerzone sollen als Anlaufstelle für kranke Flüchtlinge fungieren. In einer Art Sprechstunde sollen für Menschen ohne Papiere und Krankenschein Termine bei in Frage kommenden Arztpraxen gemacht werden. Falls nötig in Begleitung von Dolmetschern.

Vorbilder für das selbstorganisierte Göttinger Projekt arbeiten seit mehreren Jahren erfolgreich in Hamburg und Berlin. 1997 sind weitere Einrichtungen in Bochum, Bielefeld und Köln entstanden. Einige arbeiten klandestin, andere öffentlich. Bisher blieben alle von den Behörden unbehelligt. Stefan vom Büro für medizinische Flüchtlingshilfe in Berlin-Kreuzberg erklärt sich das so: "Der Berliner Senat ist ganz froh, daß unser Dienstleistungszentrum funktioniert, daß es Mediziner gibt, die das unentgeltlich machen. Wir nehmen denen ein Problem ab. Und nicht zuletzt werden dadurch die Krankenkassen entlastet." Ganz wohl ist ihm dabei nicht. "Eigentlich bekämpfen wir die staatliche Migrationspolitik, das Asylbewerberleistungsgesetz und die daraus erwachsende Zweiklassenmedizin. Andererseits nehmen wir dem Staat seine Versorgungsaufgabe." Berliner Sozialämter schicken Menschen ohne Papiere mittlerweile bei Krankheit einfach in die Sprechstunde des Büros für medizinische Flüchtlingshilfe.