Keine paßgerechten Kinder

Wer ein Ausländerkind in Pflege nimmt, muß mit ungeahnten Schwierigkeiten rechnen

Roman war noch keine Woche alt, als er vom Jugendamt zu seiner neuen Familie gebracht wurde. Inzwischen haben Marcella und Frank Holzäpfel den 20 Monate alten Jungen in Vollpflege genommen - auf Lebenszeit. Roman ist schwerstbehindert. Er hat das Down-Syndrom. Die ersten 14 Lebensmonate konnte er ausschließlich per Magensonde ernährt werden. Doch Roman hat noch einen unsichtbaren Makel, eine Behinderung, die seinen Pflegeeltern mehr Unannehmlichkeiten bereitet, als es jede körperliche tun könnte: Roman ist kein deutscher Staatsbürger, er ist Kind russisch-jüdischer Eltern.

Was der lebenslustige Bub kaum jemals verstehen wird, bekommen seine Pflegeeltern ständig zu spüren. Seit sie Roman bei sich aufgenommen haben, sind Familienreisen fast unmöglich geworden. Denn für einen Ausflug von seinem Wohnort im oberbayerischen Utting ins 60 Kilometer entfernte Österreich braucht der Russe Roman ein Visum, ebenso wie für fast alle anderen Staaten der Erde. Bis August vergangenen Jahres war bei der Familie an Reisen überhaupt nicht zu denken, denn Roman hatte nicht einmal einen Ausweis. "Für die Russen existiert er gar nicht und für die Deutschen ist er ein Russe. Er ist ein Niemandskind", stellt Marcella Holzäpfel fest. Beim zuständigen Landratsamt in Landsberg wurde die Pflegefamilie nur hingehalten. "Man hat uns sogar geraten, einfach den Ausweis der leiblichen Mutter zu benützen. Schließlich hieß es nur: Dann bleiben Sie halt zu Hause." Erst auf politischen Druck hin fühlte man sich in Landsberg bemüßigt, einen Fremdenpaß auszustellen, doch auch mit diesem Dokument ist Roman weiterhin in den meisten Ländern visumspflichtig.

"Ausländische Pflegekinder bei deutschen Familien haben rechtlich keinen Anspruch auf einen bestimmten Status", erklärt Gisela Seidler von der Münchner Anwaltskanzlei Wächtler, die sich auf Ausländerrecht spezialisiert hat. "Das ist oftmals reine Verhandlungssache." In der Praxis gehe sogar eine ganze Menge - wenn man es mit einem freundlichen Behördenmitarbeiter zu tun habe.

Die Lücke im Gesetz macht die betroffenen Familien zu Spielbällen der Ämter. Oft müssen sie die Fehler der Behörden ausbaden. So etwa die Familie Alig aus Scheuring bei Landsberg. Seit neun Jahren lebt Yeliz bei den Aligs. Die heute Elfjährige hat halbseitige Spastik und sitzt im Rollstuhl. Das Jugendamt Offenbach, von dem die Pflegeeltern Yeliz vermittelt bekamen, vergaß einfach, das Mädchen beim türkischen Konsulat registrieren zu lassen. Seit 1989 bemüht sich Werner Alig nun schon darum, einen türkischen Reisepaß ausgestellt zu bekommen. Denn ohne den kann Yeliz nicht eingebürgert werden. Drei Jahre lang hatte das Mädchen gar keine Papiere, bis Alig wenigstens eine Meldebescheinigung erwirkte. Doch auch die hilft an der Grenze wenig: "Wir können seit neun Jahren nicht ins Ausland fahren."

Besonders schlimm trifft es Pflegefamilien mit Kindern von Asylbewerbern. Dank der Residenzregelung dürfen Asylbewerber nämlich den jeweiligen Landkreis nicht verlassen. Eine Familienfahrt in den Nachbarkreis wird so zum Gesetzesverstoß - außer man besorgt sich bei den Behörden eine Ausnahmegenehmigung. Informationen über derartige Einschränkungen erhielt Frauke S. (Name geändert) natürlich nicht, als sie vom Jugendamt vor einem Jahr ein schwerbehindertes Mädchen aus Zentralasien zugewiesen bekam. "Ob das Kind Flüchtling ist oder nicht, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Wichtig war, daß es Hilfe bekommt." Der geplante Urlaub in Kroatien fiel prompt ins Wasser, an eine Ausreise war nicht zu denken, denn als einziges Dokument hat die Familie lediglich die Kopie des Kinderausweises. Illegale Wochenendausflüge in die benachbarten Landkreise will sich Frauke S. trotz allem nicht verkneifen. "Die Polizei wüßte wahrscheinlich selbst nicht, was sie tun soll, wenn sie uns aufhält." Die derzeitige rechtliche Situation sei unerträglich. "Wenn ein Kind in eine Familie kommt, dann muß es den Status der Familie bekommen und nicht umgekehrt. Wenn das nicht geht, dann dürfen ausländische Kinder eben nicht vermittelt werden."

Wie Frauke S. haben viele der betroffenen Familien Angst davor, an die Öffentlichkeit treten - weil es sich um verdeckte Pflegschaften handelt oder weil sie befürchten müssen, in Zukunft keine Kinder mehr von den Behörden zugewiesen zu bekommen. Viele bedienen sich zudem mehr oder weniger illegaler Methoden, um ihre Reisefreiheit aufrechtzuerhalten. Da Kinderausweise erst ab einem bestimmten Alter mit Fotos versehen werden, behelfen sich einige damit, daß sie sich bei befreundeten Familien mit Kindern im gleichen Alter Ausweise ausleihen. Zusammen mit einer schriftlichen Erlaubnis der Eltern wird die gemeinsame Familienreise ins Ausland wieder möglich - allerdings mit auf dem Papier fremden Kindern. Daß die Gesetzeslücke selbst für Kinder aus EU-Staaten zum Problem werden kann, mußte die Familie Grandmontagne aus dem bayerischen Peißenberg erfahren. Weil die italienischen Behörden auch nach vier Jahren immer noch keinen Ausweis für die italienische Pflegetochter ausgestellt haben, braucht die Familie für die Urlaubsfahrt in den Süden gleich zwei Visa: ein österreichisches und selbst ein italienisches.

Obwohl zumindest die Familie Holzäpfel dank öffentlichen Drucks inzwischen auf eine individuelle Lösung hoffen kann - das Ausländeramt prüft derzeit die Einbürgerung von Pflegesohn Roman -, wollen sie sich nicht mit der derzeitigen Situation abfinden. Inzwischen sind die Holzäpfels dabei, mit anderen Pflegeeltern eine Selbsthilfegruppe aufzubauen, auch um Druck auf den Gesetzgeber auszuüben. "Anfangs hatte ich Zweifel, ob ich denn da etwas Unrichtiges verlange", sagt Marcella Holzäpfel. "Mittlerweile weiß ich, daß ich im Recht bin. Ich weiß, was Pflegefamilien leisten und was ihnen zusteht."