Unruhen im Kossovo

Staatsvolk sucht Volksstaat

Das Faustpfand der Kosovo-Albaner ist ihre wachsende Fähigkeit, die gesamte Region in einen Krieg zu verwickeln. Ihre vor zwei Jahren im deutschen und schweizerischen Exil aufgebaute "Befreiungsarmee" weitete ihren Aktionsradius kontinuierlich aus und hat sich vergangenen Dezember erstmals zu Anschlägen im Nachbarstaat Mazedonien bekannt, über dessen Grenze auch ein bedeutender Anteil des Waffenschmuggels abgewickelt wird. Anfang vergangenen Jahres sorgten die Volksgenossen aus dem benachbarten Albanien für Nachschub: Große Mengen der während der damaligen Unruhen aus den Beständen der Armee verschwundenen Mordwerkzeuge seien in den Kosovo gebracht worden, berichtete die Financial Times am 27. Januar mit Berufung auf einen "hohen Beamten" aus dem Nato-Hauptquartier im belgischen Mons.

Nicht ohne Grund wurden die ersten US-Soldaten während des Krieges in Bosnien bereits 1992, also gut zwei Jahre vor der eigentlichen Entscheidung für ein militärisches Engagement auf dem Balkan, in Mazedonien stationiert; ihr Auftrag bestand darin, eine Ausweitung des Krieges auf den südlichen Balkan zu verhindern. In einer für den Pentagon angefertigten Expertise der Washingtoner National Defense University vom September 1994 wurden die Gründe dafür nachgereicht: "Im schlimmsten Fall würde ein Konflikt im Kosovo sämtliche angrenzende Staaten involvieren. Albaner würden massenweise nach Mazedonien flüchten. Die Serben könnten im Norden Mazedoniens eindringen, um aufständische Kosovo-Albaner, die dort ihre Stellungen haben, aufzuspüren und zu vernichten. Griechenland würde Flüchtlingen aus dem Kosovo die Einreise verweigern. Da das kleine Mazedonien nicht in der Lage wäre, sich zu verteidigen, würde Bulgarien wahrscheinlich intervenieren, um die Mazedonier zu beschützen, denen sich die Bulgaren ethnisch verwandt fühlen. Albanien würde Kämpfer und Waffen in den Norden schicken, um der albanischen Minderheit in Mazedonien zu helfen. Die Türkei würde sich möglicherweise mit Aktionen gegen Griechen in Mazedonien oder in der Ägäis einmischen, wodurch die Südflanke der Nato zerbrechen und die Nato selbst in eine Krise gestürzt würde."

Der zunehmende Realismus, der solchen Schreckensszenarien anhaftet, veranlaßte die USA im vergangenen Jahr zu offensichtlich vergeblichen, auf die Eindämmung des Konfliktpotentials gerichteten diplomatischen Bemühungen. Die Widersprüche, in die sich man sich dabei verwickeln mußte, wurden in der Expertise auch schon angedeutet: Wie könne man "Belgrad unter Druck setzen, den Autonomiestatus des Kosovo wiederherzustellen, ohne daß bei den Kosovo-Albanern der Eindruck entsteht, die Vereinigten Staaten würden ihnen in einer der Bosnien-Operation vergleichbaren Weise zur Seite springen; Albaniens ökonomische und politische Entwicklung unterstützen und gleichzeitig dessen Mitarbeit bei der Unterbindung der grenzüberschreitenden Subversion albanischer und mazedonischer Radikaler einklagen; die Wiederannäherung Griechenlands und Mazedoniens befördern, ohne daß der Eindruck entsteht, Washington würde einen Nicht-Nato-Staat genauso ernst nehmen wie ein Nato-Mitglied; sensibel für die griechischen Vorbehalte gegenüber den türkischen Absichten auf dem Balkan bleiben und dennoch den günstigen Einfluß Ankaras auf Muslime und Albaner nutzen."

Eine weitere Eskalation im Kosovo scheint so unberechenbar wie unvermeidlich. Sie resultiert aus dem bei Albanern und Serben in gleichem Maße so starr- wie irrsinnigen Glauben an die Wohltat eines den privaten Interessen förderlichen Nationalstaats, dessen Errichtung von "Volksfremden" vereitelt bzw. dessen Zerstörung von "Ausländern" betrieben wird.

Daran ist soviel wahr, daß jedes selbst ernannte Volk in einer Welt von anderen Völkern existiert und jedes dieser Völker sich in Konkurrenz mit den anderen reproduziert. Ohne Territorium, das von der volkseigenen Clique kontrolliert wird, ohne eigenen Staat, eigene Armee, eigene Polizei und eigenes Finanzamt hat man dabei schlechte Karten. Die Insistenz auf die eigene Sprache, Kultur und Geschichte dagegen dient ausschließlich der ideologischen Beflügelung des Zugriffs auf den fremden Besitz. Die Konkurrenz der Völker ist die Übersetzung der weltweiten Konkurrenzwirtschaft in das Bewußtsein der Volksgemeinschaft.