Sag mir, wo die Lieder sind

Günther Jacob und Thomas Rothschild diskutieren, ob die Future Retro oder die Retro Future ist

Thomas Rothschild: Unsere Lieder sind heute dort, wo überhaupt alle anspruchsvolle Kultur inzwischen ist, nämlich am Rande der Gesellschaft, beiseite gedrängt von den diversen Musicals, von einer Trivialkultur, die sich gut verkaufen läßt, von einer Anti-Intellektualität und einer Feindschaft gegenüber allem, was Anspruch an das Denken und an den politischen Verstand stellt.

Wir erleben heute eine Marginalisierung dessen, was wir traditionell unter Kultur verstanden haben, zu Gunsten dessen, wofür man Sponsoren finden kann. Die Öffentliche Hand entledigt sich der Aufgabe, Kultur zu fördern. Kultur soll sich denselben Mechanismen unterordnen, wie alles andere in unserer Gesellschaft, nämlich dem Markt. Sie soll verkäuflich sein. Und was sich nicht gut verkauft, darf über kurz oder lang wegkonkurriert werden. Ich glaube nicht, daß es an den Benutzern liegt, wenn nicht nur politische Lieder, sondern überhaupt auch Literatur, auch Theater, auch der anspruchsvolle Film immer mehr an den Rand gedrängt werden. Denn die Kunden reagieren auf das, was ihnen angeboten wird. Es ist die Verkommerzialisierung und die totale Unterordnung unserer Gesellschaft unter das Prinzip der Konkurrenz, des Profits und der Marktwirtschaft, was auch zur Verdrängung des politischen Liedes geführt hat.

Günther Jacob: Ich würde das genau umgekehrt sehen. Kollege Rothschild beschreibt ein kulturpessimistisches Szenario: Das gute Lied ist verschwunden, das Anspruchsvolle findet kein Publikum mehr, die gute Kultur ist auf den Rückzug, die Trivialkultur auf dem Vormarsch. Das bestätigt den Verdacht, den ich immer gegenüber dieser Liedermacherszene hatte: daß sie von einer hochkulturellen, elitären Position aus auf das Triviale herabschaut und dann natürlich mit so einem traditionellen Begriff von Kultur zu dem Ergebnis kommt: Unsere Lieder sind weg, es gibt kein Publikum mehr dafür.

Man kann die Sache auch ganz anders sehen. Das politische Lied ist z.B. bei Michael Jackson gelandet. "They Don't Care About Us" oder andere Stücke von ihm erfüllen formal alle Bedingungen eines Protestliedes. Sie sind vom Text her radikaler als Hannes Wader, und sie sind in allen Kinder- und Jugendzimmern. Ich denke, daß der Typus des Protestsongs oder des politischen Liedes heute ungeheuer boomt. Die ganze Popmusik ist voll von kritischen und protestierenden Songs. Kein Künstler kommt darum herum, in irgendeiner Weise sich kritisch oder protestierend zu geben. Das Problem ist eher, daß eine bestimmte alte Schule heute sozusagen alt aussieht mit dieser Kombination aus Protestsong und Klampfe. Aber selbst das stimmt nicht mehr, weil es die Richtung des Neofolk gibt, weil es sogar im normalen Pop durchaus wieder üblich ist, Klampfe - mit Verstärker zwar, aber Klampfe - zu spielen.

Rothschild: Als ich von Trivialkultur gesprochen habe, habe ich von "Miß Saigon" und dem Musical-Schund gesprochen. Ich habe von einer Tendenz gesprochen. Die Vorstellung, daß wir das, was die anderen als Trivialkultur lange Zeit diffamiert haben, ausspielen können gegen die sogenannte Hochkultur, hatte ich auch um 1968 herum. Heute würde ich sagen, das war einer der wenigen Fehler, den die 68er gemacht haben. Sie haben viel weniger Fehler gemacht, als uns heute eingeredet wird. Aber einer der Fehler war, nicht erkannt zu haben, daß wir mit der Verachtung der bürgerlichen Kultur auch alle Ansätze für eine alternative Kultur kaputtmachen. Ich würde darauf bestehen, daß die Lieder eines Franz Josef Degenhardt ohne die Tradition der bürgerlichen Kultur nicht denkbar sind. Diese bürgerliche Kultur wird heute vom Bürgertum selbst preisgegeben, weil das Bürgertum keine Legitimationspflicht mehr verspürt. Sie brauchen sich heute nicht mehr als gebildet auszuweisen, sie müssen nur viel verdienen. Daß etwas verkauft wird oder nicht, das ist mir relativ wurscht. Was mir nicht wurscht ist, ist, ob sich nur noch das durchsetzen kann, was ohne öffentliche Subvention auf dem Markt bestehen kann.

Über Michael Jackson kann man streiten. Es ist mir neu, daß er zu unseren Liedern, wenn wir die deutschsprachigen Lieder meinen, gehört, ich hätte ihn in einer anderen Tradition gesehen. Und selbst diese Rocktradition ist, verglichen mit der Vielfalt in den späten sechziger Jahren, ärmer geworden. Nicht, weil das, was es gibt, schlechter geworden ist, sondern weil es weniger vielfältig ist. Es gab eine Vielfalt von Experimenten zwischen Rock und Jazz, die weitgehend verloren gegangen ist. Zumindest, wenn Sie sich die Radioprogramme anhören. Und die Radioprogramme sind nun mal der erste Werbeträger, die erste Informationsquelle für diese Art von Kultur.

Jacob: Mir fällt es schwer, jetzt darauf etwas zu sagen.

Rothschild: Wieso, das war doch dezidiert?

Jacob: Man müßte sehr, sehr weit ausholen. Die Behauptung, Degenhardt wäre nicht denkbar ohne den Rückgriff auf bürgerliche Traditionen, ist sehr pauschal. Natürlich springt niemand aus der Geschichte raus und ist plötzlich da.

Rothschild: Er benützt doch überlieferte Formen in seinen Texten.

Jacob: Natürlich. Aber Ihre Verfallsrhetorik hat einen sozialen Hintergrund. In kurzen Worten: Es gibt seit den dreißiger Jahren einen Niedergang der sogenannten Bildungskultur und parallel dazu, in den USA angefangen, einen Aufstieg der sogenannten Massenkultur. Dieser Niedergang der bürgerlichen Bildungskultur und aller ihrer Ideale und der Hegemonie, die sie hatte, hat zu der Situation geführt, wie wir sie heute haben, daß sich kulturell neue Erfahrungen und Formen nicht mehr vor diesem Kanon legitimieren müssen. Wie man das bewertet, wäre eine eigene Diskussion.

Ich wehre mich dagegen, diesen Prozeß als Verfall wahrzunehmen, weil mit dem Aufstieg der Massenkultur auch Leute ermächtigt wurden zu sprechen, denen vorher das Maul verboten war. Weil man sich vorher kulturell nur äußern konnte, wenn man eine ganz bestimmte Bildung durchlaufen hatte. Solange sie als eine angeborene persönliche Eigenschaft erscheint und nicht als Ausdruck einer Klassenhierarchie in den Bildungsmöglichkeiten, kann man ganz unterschiedlicher Meinung sein, wie man das beurteilt.

Rothschild: Ihr Argument war: Gut, die bürgerliche Kultur, der alte Kanon mag verschwunden sein. Aber dafür haben wir jetzt neue Publikums- und Künstlerschichten erschlossen. Das ist ein Ersatz dafür, ist vielleicht sogar besser und gibt Grund zu Optimismus. Als ich 1968 nach Deutschland kam, habe ich an der Universität zu arbeiten begonnen. Eines meiner ersten Erlebnisse war ein Konzert von Degenhardt in der Aula dieser Universität. Brummvoll, unheimlich viele Menschen. Die Aula gibt es immer noch, aber den Degenhardt gibt es dort nicht mehr, sondern da finden jetzt Tanzpartys statt.

Dieses Publikum hat inzwischen diese Art von Kultur nicht mehr. Gut, könnte man sagen, dafür aber eine andere. Wie sieht es mit der anderen aus? Es gab ja nicht nur Franz Josef Degenhardt, sondern es gab z.B. Floh de Cologne. Dieses Studentenkabarett hat sehr präzise gesagt, was Günther Jacob vorhin im allgemeinen gesagt hat, nämlich: Wir wollen ein neues Publikum erreichen. Wir wollen die ansprechen, die bisher keine eigene Kultur hatten, keine eigenen Ausdrucksmittel. Sie haben angefangen, die Kultur zu erlernen, von der sie meinten, daß sie verstanden wird.

Ist Michael Jackson heute die Entsprechung für Floh de Cologne? Wenn das der Fall ist, dann erlauben Sie mir doch wertend zu sagen: Ich halte das für einen Verlust.

Jacob: Das Gefühl, daß man ganz weit ausholen muß, legt sich nicht bei mir. Also Floh de Cologne. Ich erinnere mich an die Vietnam-Platte von denen. Die besteht zu 50 Prozent aus deuschtümelnder Tradition, aus sogenannten Volksliedern. (Empörung im Publikum) Wir können dann nochmals separat darüber diskutieren.

Rothschild: Dann reden wir doch von den Schmetterlingen ...

Jacob: Dann kommen wir gleich zu Bots. Das war für mich 1981 der Anlaß, mich von dieser Sache abzuwenden. Zunächst folgende Richtigstellung: Meine Erfahrung ist, daß Linke einen soziologischen Befund nicht von einer Parteinahme abgrenzen können. Was ich eben gesagt habe, war ein soziologischer Befund, keine Parteinahme.

Ich habe mir die erste Degenhardt-Platte 1968 gekauft. Das war "Degenhardt live". Damals hat man twen gelesen, hat Degenhardt und irgendwelche Rockmusik gehört und ein Dutschke-Plakat im Zimmer hängen gehabt. Später ist einem Degenhardt dann wieder ferner geworden - aus biographisch unterschiedlichen Gründen. Daß man heute wieder Degenhardt hören kann, daß es Leute gibt wie Anarchist Academy, die Degenhardt samplen, verdanken wir der Postmoderne. Die Postmoderne hat die Vorstellung, daß es Vorgänger und Nachfolger gibt, daß es eine lineare Weiterentwicklung vom niedrigen zum höheren Niveau gibt, daß der nachfolgende Künstler das nicht fertiggestellte Werk des vorangegangenen Künstlers vollendet, verworfen.

Die Postmoderne hat diese synchrone und diachrone Ordnung des bürgerlichen Kunstbetriebes aufgelöst und damit möglich gemacht, daß Future Retro heißen kann, daß Future und Retro nebeneinander stehen. Insofern ist der Witz daran, daß wir heute dank der Postmoderne wieder Degenhardt hören können.

Ich bin grundsätzlich gegen politische Musik. Die Idee, die hinter dem Protestsong und der politischen Musik steckt - die ja hauptsächlich textbezogen und nicht soundbezogen ist -, ist eine ganz platte Vorstellung. Es gibt die bürgerliche Tradition der Vokalmusik und die der Instrumentalmusik. Diese Art von Protestlied, mit der wir es hier zu tun haben, bezieht sich auf die europäische Tradition der Vokalmusik. Das ist eine Position, von der aus z.B. die Instrumentalmusik immer als bürgerlich tendenzlos denunziert wurde.

Rothschild: Ich erkenne durchaus die politische Dimension von Schönberg. Aber wir sprechen hier nicht über "Wo ist unsere Zwölf-Ton-Musik geblieben?", sondern "Wo sind unsere Lieder geblieben?".

Jacob: Die Geschichte ist doch die: Die Nachfrage von Millionen Konsumenten - Marx nennt die arbeitende Klasse auch an einer Stelle "die größte Klasse der Konsumenten" -, die Massenkultur hat ein vollkommen neues soziologisches Phänomen hervorgebracht. Sie führt dazu, daß die Nachfrage von Leuten, die, für sich genommen, über sehr wenig Geld verfügen, sich zu einer Milliarden-Nachfrage addiert. Und diese Lohneinkommen sind heute eingebunden in den industriellen Kapitalkreislauf, sind real wichtig und haben eine neue soziologische Figur wie den König Kunden hervorgebracht. Der Effekt ist, daß die Millionenmassen mit ihrer Milliarden-Nachfrage heute mit ihrem Geschmack diktieren, was kulturell angesagt ist. D. h. die Masse der Proleten, um es in einer Siebziger-Jahre-Terminologie zu sagen, bestimmt mit ihrer zahlungsfähigen Nachfrage, was auf RTL läuft, was in den Illustrierten steht usw., und sie drückt dem Rest der Gesellschaft ihren Geschmack auf.

Rothschild: Ich habe jetzt auch ein wenig Schwierigkeit mit der Diskussion. Vor allem mit der Apodiktik Ihrer Behauptungen, Herr Jacob, die ich schon aus anderen Diskussionen kenne. Wer ist es denn nun? Ist es die Postmoderne, oder sind es die vier Millionen Arbeitslosen, die unsere Kultur bestimmen? Beides haben Sie jetzt schon gesagt. Bei der Postmoderne wäre ich noch einmal ein bißchen skeptischer als bei den vier Millionen. Wenn die Postmoderne es möglich macht, daß man jetzt wieder Degenhardt hört - was mir als These völlig absurd erscheint -, dann hoffe ich nur, daß die Programmdirektoren sich an die Postmoderne halten. Momentan sieht es noch nicht so aus.

Der Diskussion ist ein Ausschnitt aus ei-ner Veranstaltung, die 1997 auf der Burg Waldeck stattfand. An dem Gespräch zum 65. Geburtstag von Franz Josef Degenhardt nahmen auch Pit Klein und Hannes Loh teil.