Störenfried der Erinnerungen

Die jüdische Widerstandsgruppe Herbert Baum

I.
Mit der Wiedervereinigung kam die deutsche Nachkriegsgeschichte zum Abschluß. Als im Herbst 1992 rechtsradikale Banden das Ende der Nachkriegszeit auf ihre Weise mit Brandanschlägen und Mordtaten feierten, da mußten die Täter weniger die Gewalt des Staates fürchten als sich der verständnisvollen und fürsorglichen Anteilnahme erwehren, die ihnen von Politikern und in den Medien entgegengebracht wurde. Angesichts der Verwandlung von rassistischen Mördern in Sozialfälle meldete sich der Schriftsteller Ralph Giordano zu Wort. Er war als Jugendlicher seinen Landsleuten nur deshalb entkommen, weil diese mit der "Endlösung" vor dem Eintreffen der Alliierten nicht ganz fertig geworden waren. In einem Offenen Brief an den Bundeskanzler schreibt er: "Da wir nach den jüngsten Mordfällen den Glauben und die Hoffnung verloren haben, daß Sie und Ihre Regierung einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsextremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bieten können, teile ich Ihnen mit, daß nunmehr Juden in Deutschland, darunter auch ich, dazu übergegangen sind, die Abwehr von potentiellen Angreifern auf unsere Angehörigen und uns in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar bis in den bewaffneten Selbstschutz hinein." Die öffentliche Aufregung, die diese Ankündigung auslöste, war freilich weniger gespeist von der Befürchtung, daß jemand Recht und Gesetz in die eigenen Hände nehmen könne, als von der Tabuverletzung, die Giordano begangen hatte: Juden hatten Opfer zu sein und in der Regel auch tot. Je toter sie waren, desto eher wurden sie sogar geliebt, wie man der Zuneigung entnehmen konnte, die ihnen in zahlreichen Ausstellungen der letzten Jahre entgegengebracht wurde. Waren sie zufällig am Leben geblieben, dann hatten sie ihren festen Platz in der arbeitsteiligen Ordnung der Republik; sie waren, wie das im Fall des verstorbenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, von der Öffentlichkeit geradezu als Beruf der Überlebenden anerkannt wurde: Mahner. Giordanos Warnung an die Exekutive hingegen war ein Verstoß gegen die den Juden im Nachkriegsdeutschland zugedachte Opferrolle und ein Akt tätiger Erinnerung insofern, als er den verblüfften Deutschen klarmachte, sie müßten von nun an mit Widerstand rechnen. Die Verblüffung selbst ist nicht neu, die Entrüstung nicht weniger. Neu ist nur, daß die Deutschen heute sich nicht mehr darauf verlassen können, daß Juden erst dann zur Gegenwehr schreiten, wenn es zu spät ist. Akte später Gegenwehr sind bekannt, und in der Empörung über Giordanos Auftreten hallte noch die Wut der Nazis nach, die es nicht verwinden konnten, wenn ausgerechnet ein Jude sich wehrte, wenn einer wie David Frankfurter 1936 zur Pistole griff und einen Nazi-Funktionär erschoß.

Vor rund zehn Jahren versuchten Studenten der Technischen Universität Berlin diese Sichtweise zu durchbrechen und in einem symbolischen Akt an eine jüdisch-kommunistische Widerstandsgruppe zu erinnern. Sie beschlossen, das Hauptgebäude der Universität nach Herbert Baum, dem Leiter der Widerstandsgruppe, zu benennen. Mit dieser Aktion lösten sie einen Proteststurm aus, der gegenwärtig nicht annähernd erreicht wird, wo es um Rückbenennung von Straßen geht, die bislang Namen von Antifaschisten trugen. Die Studenten brachten an der Hausfront den Namenszug "Herbert-Baum-Gebäude" an und befestigten eine Gedenktafel, die daran erinnerte, daß Herbert Baum wegen seiner jüdischen Herkunft seine Ausbildung zum Ingenieur nach 1935 nicht mehr fortsetzen durfte und 1942 als Widerstandskämpfer ermordet wurde. Die Universitätsleitung ließ die Gedenktafel entfernen, wozu sie pikanterweise den Beginn der "Woche der Brüderlichkeit" aussuchte.

Das Berliner Parlament sah die freiheitlich-demokratische Grundordnung durch die Erinnerung an jüdische Kommunisten gefährdet und debattierte über die studentische Umbenennung. Ein hochrangiger FDP-Politiker hielt die Aktion für einen "Ausdruck politischen Vandalismus'" und fühlte sich "doch sehr stark an das erinnert, was wir am Vorabend der Machtergreifung der Nationalsozialisten (...) gehabt haben". Bei Herbert Baum, fügte er hinzu, handle es sich um einen "unbekannten, angeblichen" Widerstandskämpfer. Derlei Unfug, der nur noch überboten wurde von Äußerungen, die Baum-Gruppe sei eine Art jüdische RAF gewesen, geht nicht allein auf das Konto persönlicher Dummheit. Vielmehr handelt es sich dabei um den bloß provinziellen Ausdruck offizieller Geschichtsbetrachtung: Kommunist und Jude, das war unerträglich, das war eine Kombination, die bereits bei den Nazis als das absolute Gegenprinzip gegolten hatte.

In strikter Abgrenzung dagegen wurde von Konservativen, Sozialdemokraten, Kommunisten und schließlich auch Alternativen der traditionelle Begriff des "anderen Deutschland" gepflegt. Diese contradictio in adjecto gehört zu den zählebigsten Gründungsmythen der Republik. Wie aus einem Jungbrunnen entstieg dieser Konstruktion, kaum war es mit der kriminellen Volksgemeinschaft vorbei, ein neues Kollektiv, das ganz anders, vor allen Dingen anders deutsch, nämlich anständig gewesen war. Abgesehen vom völkischen Denkmuster, das mit dem Begriff vom "anderen Deutschland" tradiert wird; abgesehen von der Berufung auf die Anständigkeit, einen Charakterzug, auf den gerade die Nazis ihre Schlächter immer eingeschworen haben; abgesehen von der Tatsache, daß es Widerstandsaktionen von einzelnen Personen und isolierten Gruppen, nicht aber eine anderen Ländern vergleichbare Widerstandsbewegung gegeben hat; abgesehen von all diesen Momenten wird bei der Berufung auf das "andere Deutschland" dessen größte Schande sanktioniert: die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden.

Giles McDonough berichtet in seiner Biographie über den Widerstandskämpfer von Trott ("A Good German. Adam von Trott zu Solz") von einer Unterhaltung zwischen Trott und dem chinesischen Revolutionär Lin Tsiu-Sen 1942 in Basel. Der Chinese monierte, die deutsche Opposition sei zu passiv. Er sagte: "Wenn ihr Hitler nicht töten könnt, dann tötet Göring. Wenn ihr Göring nicht töten könnt, dann tötet Ribbentrop. Wenn ihr Ribbentrop nicht töten könnt, dann irgendeinen General auf der Straße." Die Antwort Trotts, wie der Chinese sie überliefert, lautete: "Deutsche bringen ihre Führer nicht um." Die deutschen Militärs hatten überaus professionell halb Europa zerstört, erwiesen sich aber als Amateure, wo es darum ging, den Anführer der Bande zu beseitigen. Sie schrieben Memoranden, Studien und Pläne über die Zukunft Deutschlands und hatten tiefe Gewissenskonflikte wegen der Frage des Hochverrats und des Eidbruchs. Daß sich hohe Militärs überhaupt zum Widerstand entschlossen hatten, lag weniger am verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik als daran, daß die Firma auf einen Konkurs zusteuerte. Die Opposition hatte sich erst an der Kriegsfrage entzündet, und zum Kreis um die militärische Verschwörergruppe des 20. Juli gehörten Männer, die lange Zeit in erstaunlichem Ausmaß die Prinzipien der Nazis geteilt und hohe Funktionen eingenommen hatten. Sie waren darum besorgt, daß man die Wehrmacht für die Verbrechen zur Verantwortung ziehen könnte und verlangten allen Ernstes von den Alliierten, diese sollten nicht auf die Rückgabe aller von Deutschland seit 1933 annektierten Gebiete bestehen. So mutig diese Leute waren, so wenig ließ sich freilich andererseits ihr politischer Bankrott verheimlichen. Goerdeler befürwortete eine erbliche Monarchie, für die der Sozialdemokrat Leuschner die Massen gewinnen wollte. Und in der Frage der Judenverfolgung hätte Goerdeler, dessen Denkschriften von völkisch-nationalen Auffassungen durchdrungen waren, sich - wie Hannah Arendt einmal bemerkte - bestimmt mit Eichmann einigen können. Auch die Verschwörer des 20. Juli wollten eine Lösung der Judenfrage, eine "Dauerlösung" - in Kanada. Im "anderen Deutschland" war kein Platz für sie vorgesehen. Sieht man sich die Dokumente des Verschwörerkreises an, stellt man fest, schrieb Hannah Arendt in "Eichmann in Jerusalem", wie sehr diese Leute "selbst bereits im Bann der von den Nazis gepredigten neuen Wertskala standen".

Die Ehrenrettung der deutschen Geschichte mithilfe der propagandistischen Formel vom "anderen Deutschland" blieb freilich keine exklusive Domäne konservativer oder bürgerlicher Historiker und Politiker. Die Legende vom besseren Deutschland wurde schließlich im Verlauf der Beschäftigung mit der nationalen Frage, wie man den Wandel durch Annäherung im linken Milieu bezeichnete, zu einem bestimmenden Element bei der Betrachtung der jüngeren Geschichte und bei der Begründung der eigenen Politik. Vor allem alternative Freilandhistoriker taten sich bei der Entdeckung und Beschreibung von Widerstandsformen hervor, die angeblich von der herrschenden Geschichtswissenschaft verdrängt wurden, in Wirklichkeit aber so verborgen gewesen waren, daß sie nicht einmal den Nazis besonders aufgefallen wären. Bücher und Broschüren zur Lokalgeschichte des Widerstands hatten Konjunktur, jedes nichtkonforme Verhalten wurde durch das Bedürfnis nach zweifelsfreier Tradition zu Widerstand veredelt, jeder nicht ausgestreckte Arm in eine geballte Faust verwandelt. Der Begriff des Widerstandes wurde derart inflationär noch der letzten privaten Geste übergestülpt, daß man sich unwillkürlich fragen mußte, warum angesichts solcher massenhaften antinazistischen Verhaltensweisen eigentlich nicht die Nazis im Gefängnis, sondern die Antifaschisten im Lager gesessen hatten. In diesem - auch in der DDR beliebten - Geschichtsbild war die deutsche Vergangenheit säuberlich aufgeteilt in böse Nazis und gute Deutsche, die den Juden halfen, wo sie nur konnten. Wie man weiß, ist diese Hilfe den Juden schlecht bekommen. Insbesondere ihre Berliner Wohltäter wurden immer wieder hervorgehoben. Nirgendwo, so blickt man in der Hauptstadt auf die deutsche Geschichte zurück, habe man so viele Juden versteckt wie hier. Die Berliner hatten sie aber offenbar so gut versteckt, daß sie sie nach dem Kriegsende kaum wiederfinden konnten.

II.

Hinter der Frage, warum die Juden sich nicht gewehrt hätten, steckt in den seltensten Fällen das Interesse, herauszufinden, wie Menschen es zulassen konnten, daß andere Menschen auf den Stand absoluter Wehrlosigkeit und völliger Verlassenheit herabgedrückt werden konnten. Der nachgerade verlogene Satz, die Juden seien wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen, ist deshalb auch keine Feststellung, sondern ein Vorwurf. Wenn der Bürger schon zähneknirschend zugibt, heißt es irgendwo bei Adorno, daß Verbrechen begangen worden seien, dann will er wenigstens, daß auch das Opfer schuld sei. Der liebgewordene Gedanke daran, daß die Juden stumm zu ihrer Ermordung hingingen, ist an die Stelle der Frage getreten, warum die Deutschen brüllend hinter ihren Blockwarten und Gauleitern herliefen. Die Ermordung der Juden gilt sozusagen als Strafe für deren Wehrlosigkeit. Daß sie schon damals die besseren Menschen hätten sein und als Kollektiv hätten widerstehen sollen, schrieb ein Berliner Politikwissenschaftler just in dem Augenblick, als der irakische Präsident Saddam Hussein drohte, den Staat Israel in ein Krematorium für dessen Bewohner zu verwandeln. "Man stelle sich vor", ließ der Professor die Leser der taz wissen, "die Kolonnen der Hunderte und Tausende auf dem Weg zu den Güterbahnhöfen hätten sich schlicht hingesetzt - hätten Polizei, SA, Wehrmacht und SS es gewagt, im Angesicht aller deutschen Zuschauer diese Menschen (...) zusammenzuschlagen und sie Körper für Körper widerstandslos und doch mächtig, auf Lastwagen zu verfrachten?" Ein einziges jüdisches Teach-in, und Goebbels hätte einpacken können; ein einziges jüdisches Sit-in, und die Millionen NSDAP-Mitglieder hätten sich zu einer Bürgerrechtsbewegung gemausert. Doch offensichtlich fehlte den Juden die Zivilcourage, die sie gleichzeitig auch noch den Zuschauern ihres Elends beibringen sollten. Weshalb sie also nicht nur an ihrer eigenen Vernichtung mitschuldig, sondern auch noch für den fehlenden Widerstand bei den Deutschen verantwortlich sind.

Nur bruchstückhaft ist ins allgemeine Bewußtsein getreten, daß deutsche Juden auf vielfältige Weise Widerstand geleistet haben. Die Bandbreite ihres bislang nur lückenhaft dokumentierten Widerstands reicht von zivilem Ungehorsam bis zur Sabotage. Deutsche Juden waren im europäischem Widerstand aktiv, kämpften im Spanischen Bürgerkrieg für die Republik, und Zehntausende von ihnen setzten als Angehörige der alliierten Streitkräfte ihr Leben im Kampf gegen die Nazis ein. Ebenso wenig, weil die Legende vom vorgeblich anständigen Deutschen zerstörend, ist ins allgemeine Bewußtsein gedrungen, weshalb der Widerstand von Juden in Deutschland bestenfalls symbolischen Charakter tragen konnte, weshalb es sich bei Protesten von Juden um meist aussichtslose Gesten der Verzweiflung handeln mußte.

Es lag nicht an der Brutalität der SA oder am Terror der SS, es lag an der organisierten Macht der Volksgemeinschaft, welche die Juden schrittweise in ohnmächtige Parias verwandelte, bis sie schließlich im Innern Deutschlands ausgebürgert, so rechtlos und so wehrlos waren, daß sie jenen Zustand erreichten, den Jean Améry als Einbuße des "Weltvertrauens" und Hannah Arendt als Verlust der "Weltbezogenheit" bezeichnet haben. Als wichtigstes Element des Weltvertrauens nannte Améry die Gewißheit, "daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen psychischen und damit auch meinen metaphysischen Bestand respektiert." Diese Gewißheit hatte noch jeder Sklave gehabt, den Juden in Deutschland hat man sie genommen.

Bekannt ist, was die SS gemacht hat. Aber ein noch immer gut gehütetes Betriebsgeheimnis nationalsozialistischer Herrschaft ist die Tatsache, daß es sich bei ihr um die erste Form bürgernaher Herrschaft gehandelt hat. Denn die Massenverbrechen waren nicht nur Verbrechen an Massen, sondern auch Verbrechen von Massen. Ohne die tätige Mitwirkung ganzer Branchen wie des Dienstleistungsgewerbes, ohne die Mitwirkung vieler Berufsgruppen wie Ingenieure und Architekten, ohne die Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, ohne die tatkräftige Unterstützung durch die Wehrmacht, ohne Wissen und Mitwirkung dieser Millionen Menschen hätten nicht Millionen Menschen umgebracht werden können. Zwar gab es, wie Hannah Arendt schreibt, nur wenige Menschen, die die Verbrechen aus vollem Herzen bejahten, dafür aber eine genügend große Anzahl, die absolut bereit waren, sie dennoch auszuführen. Bei soviel Bürgerbeteiligung fiel es schwer, die Untaten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Über die enge Komplizenschaft zwischen Verbrechern, Mittätern, Handlangern und Zuschauern heißt es bei Hannah Arendt: "Denn während das deutsche Volk nicht über die Verbrechen der Nazis informiert oder sogar vorsätzlich über deren genaue Art in Unwissenheit gehalten wurde, hatten die Nazis doch dafür gesorgt, daß jeder Deutsche von irgendeiner schrecklichen Geschichte wußte. Er brauchte also gar nicht alle in seinem Namen verübten Untaten genau zu kennen, um zu begreifen, daß er zum Komplizen seines unsäglichen Verbrechens gemacht worden war." Gelegentlich wurde den Nazis, deren Sicherheitsdienste mit vergleichsweise weniger Personal auskamen als die Stasi, die heftige Bürgerbeteiligung sogar etwas lästig, und sie beschwerten sich, wenn zu viele Bürger Juden bespitzelten, über das "Unwesen" der Denunziation.

Nach der Zerstörung ihrer juristischen und moralischen Person blieb den Juden, die es bis zu Kriegsbeginn nicht geschafft hatten, Deutschland zu verlassen, nicht einmal der Hauch einer Chance. Sie waren, abgesehen von individuellen Gesten guter Gesittung, nicht nur ohne Bündnispartner, weil auch der organisierte Antifaschismus jeglicher Couleur die Juden als "minorité fatale" betrachtete, sondern sie waren schon wie nicht mehr von dieser Welt. Sie standen nicht vor dem Problem der Handlungsfreiheit, sondern vor der von allen Seiten der Gesellschaft bestätigten Tatsache, daß sie gar nicht mehr handeln konnten. Allenfalls das negative Gegenbild des nazistischen Volksgenossen und insofern zur Ausrottung freigegeben und verlassen von der übrigen Welt, blieb ihnen nicht einmal mehr die Hoffnung, daß Protest, in welcher Form auch immer, einen Adressaten finden könnte. David Frankfurter hatte nach seinem Attentat auf Hitlers Statthalter in Davos wenn nicht auf die Reaktion der Weltöffentlichkeit, so doch darauf gehofft, die Schüsse könnten ein Signal für die Juden sein. Er stellte mit dieser naiven Hoffnung weder in Rechnung, wie getreu die deutschen Juden die Sozialstruktur und die entsprechenden Verhaltensmuster und Ideologien der deutschen Gesellschaft abbildeten und so identisch mit ihr waren, daß sie oft noch im Augenblick der höchsten Gefahr Skrupel beim Erwerb eines gefälschten Ausweispapiers und Gewissensbisse beim illegalen Grenzübertritt verspürten, daß sie also, wie es mit einem schrecklichen Terminus der Historiker heißt, keine gemeinsamen "vorkonzentrationären Merkmale" aufwiesen, die eine gemeinsame Abwehr ermöglicht hätten; er stellte andererseits auch nicht in Rechnung, mit welcher Schnelligkeit und in welchem Ausmaß es gelingen konnte, Menschen in eine Art Niemandsland zu verbannen, das außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stand.

Der letzte Protest von Menschen, die vor der Aussicht standen, daß ihnen auch noch der eigene Tod genommen würde, war deshalb Veronal. Allein in Berlin nahmen sich in der Deportationszeit mehr als 2 000 Juden das Leben. Die Nazidienststellen wurden angewiesen, "alle Ausfälle (durch Selbstmord usw.) unverzüglich mitzuteilen". Im Lager sollte der Tod vollends anonym sein. Deshalb wurden Selbstmordversuche mit öffentlicher Hinrichtung bestraft. Bei warnenden Ansprachen an die Häftlinge hieß es, Juden hätten nicht das Recht, sich zu töten, dieses Recht stehe nur den Deutschen zu.

III.

Nach 1939 wurde offener Protest von offizieller jüdischer Seite völlig zum Verstummen gebracht. Als die "Reichsvereinigung" zu Beginn der Deportationen bei Eichmann intervenierte, mit dem kollektiven Rücktritt ihrer Repräsentanten drohte und in allen Gemeinden mit Gebeten der Deportierten gedenken wollte, da wurde dieses letzte hilflose Aufbegehren brutal bestraft. Von nun an sollte die als Vertretungskörper gegründete und von den Nazis in eine Zwangskörperschaft umgewandelte Institution als bürokratisches Hilfsinstrument bei der forcierten Ausschaltung, der Austreibung und schließlich bei der Deportation dienen. Die den jüdischen Instanzen zugedachte Rolle als Befehlsübermittler war indes nur der logistische Ausdruck einer moralischen Perfidie, welche in den Augen der Nazis den Sieg über die Opfer erst vollendete. Die SS wollte nicht nur die Juden umbringen, sie wollte deren Einverständnis durch Mithilfe. Die Opfer sollten schon vor ihrer Ermordung aufgehört haben zu leben. Auf jüdischer Seite führten die erzwungenen Dienstleistungen bei der Registrierung, Konzentrierung, Kennzeichnung und Deportation zu der entsetzlichen Illusion, der Schrecken werde gemildert durch die "Menschlichkeit" der Handlanger. Hildegard Henschel, die Frau des letzten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Berlin, berichtete später über die "segensreiche Tätigkeit" des Hilfspersonals der Gemeinde, das beim Abtransport am Bahnhof Grunewald Tee an die Todgeweihten ausschenkte, so als habe es sich um milde Gaben der Bahnhofsmission gehandelt. Und von Leo Baeck ist das furchtbare Wort überliefert, jüdische Polizisten seien "sanfter und hilfreicher", sie würden "die Qual erträglicher machen". Er verschwieg in Theresienstadt vor den Inhaftierten bewußt die Wahrheit über die Abtransporte aus derselben "Menschlichkeit" heraus und erklärte dazu später, daß "in Erwartung des Todes durch Vergasung zu leben nur noch härter wäre".

Ein einziges Mal freilich kam es während der Deportationen zum offenen Protest. Dieser Protest war die einzige in aller Öffentlichkeit, nämlich auf Berlins Straßen, zum Ausdruck gebrachte Manifestation gegen die Verfolgung und Ermordung der Juden in der ganzen Nazizeit. Es handelte sich hierbei um einen spontanen, unorganisierten späten Protest, dessen Motive auch seine Grenzen markierte. Ende Februar 1943 wurden die Nazis ungeduldig, sie wollten dem Führer zum Geburtstag ein judenreines Berlin präsentieren und ließen bei der sogenannten "Fabrik-Aktion" die in "Mischehe" lebenden jüdischen Ehepartner zusammentreiben. Sie wurden in einem von den Nazis requirierten Verwaltungsgebäude der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße inhaftiert und warteten dort auf ihren Abtransport in die Vernichtungslager. Die nichtjüdischen Ehefrauen protestierten tagelang vor dem Gebäude und forderten die Herausgabe ihrer Angehörigen. Die bewaffnete SS griff nicht ein, und nach einiger Zeit durfte die überwiegende Mehrheit der Männer wieder zu ihren Familien zurückkehren. Das mutige Vorgehen der "Frauen in der Rosenstraße" hat mangels anderer Beispiele offenen Protests zu einer eigentümlichen Verklärung der Aktion wie der Beteiligten geführt. Die Protestaktion wurde im nachhinein gelegentlich zum Vorbild stilisiert, dessen Nachahmung - die ja dem Original hätte zeitlich weit vorausgehen müssen - die Deutschen nicht als ein Kollektiv von Tätern und Zuschauern zurückgelassen hätte. Besser freilich diente jene Demonstration zum Anlaß, darüber zu reden, um wie entscheidend größer als die Zahl der notdürftig geretteten jüdischen Ehepartner die Anzahl der meist von nichtjüdischen Ehemännern aufgelösten "Mischehen" war. Nach Kriegsausbruch war eine Scheidung für den jüdischen Teil eines Ehepaares identisch mit einem Todesurteil. Wichtiger indes ist es, die biologisch-familiären Antriebsmomente des Protests zu sehen. Denn die familiären Instinkte standen nicht am Anfang eines davon verschiedenen Protests, sie waren dessen Schlußform. Dieser Gedanke mindert die Courage der demonstrierenden Frauen von damals um keinen Deut, die nur noch als Ehefrauen reagieren konnten, er ist im Gegenteil ein Einwand gegen die schlechte Verklärung von heute. Mit der Heroisierung der ihrer Männer beraubten Frauen als Ehefrauen wird nur - und mit gutem Gewissen - die zutiefst reaktionäre Ideologie von der Familie als Instinktgemeinschaft befestigt und mit den besten Absichten das Familienbild der Nazis reproduziert

Daß das Beharren auf der Familie, ähnlich wie das Beharren auf der Legalität, eher zur Falle und ein Hinderungsgrund wurde, richtige Entscheidungen zu treffen, beschrieb Bruno Bettelheim am bekanntesten Fall: "Der Wunsch der Eltern der Anne Frank, ihr vertrautes Familienleben nur ja nicht aufzugeben, und ihr Unvermögen, ihr Überleben effektiver zu planen, ist das Musterbeispiel einer Reaktion, wie sie viele andere Menschen damals hatten, als sie vom Nazi-Terror bedroht wurden." Und über die erfolgreiche Verbreitung des "Tagebuchs der Anne Frank" schrieb er, "daß sich die weltweite Zustimmung (...) erst dann erklären läßt, wenn wir einsehen, daß wir die Fähigkeit glorifizieren, sich in eine extrem private liebenswerte und empfindsame Welt zurückzuziehen und sich in dieser Welt mit allen Mitteln an die altgewohnten alltäglichen Ansichten und Verrichtungen zu klammern, obwohl diese Welt um einen herum nur ein einziger Strudel ist, der einen jeden Augenblick hinabreißen kann."

IV.

Für Juden, die sich am Widerstand gegen die Nazis beteiligen wollten, war klar, daß sie nur außerhalb der jüdischen Institutionen, außerhalb der von den Nazis verfaßten Zwangsgemeinschaft und im Untergrund operieren konnten. Die politische Opposition war bald zerschlagen, und mit ihrem Ende datiert der systematische Ausbau der Lager.

1935 korrigierte die KPD, die bislang den Antisemitismus als bösartige Nebenerscheinung des Klassenkampfs begriffen hatte, ihre offizielle Auffassung, nur jüdische Arbeiter, Angestellte, Akademiker und kleine Kaufleute, nicht aber die "besitzenden jüdischen Schichten" würden verfolgt. Das besondere Interesse der Parteispitze im Pariser Exil galt dem Schicksal der jüdischen Genossen in Deutschland, denen angeraten wurde, entweder zu emigrieren oder sich in einer separaten jüdischen Gruppe zu organisieren. Von heute aus läßt sich immer noch nicht sagen, was genau die KPD veranlaßt hat, ihre jüdischen Mitglieder vor diese Alternative zu stellen. War es die Sorge um das Leben der jüdischen Genossen oder kam der in der DDR-Geschichtsschreibung mit peinlichem Schweigen übergangene Vorschlag, Juden und Nichtjuden zu trennen, nicht eher aus der Sorge um den Erhalt der eigenen dezimierten Kader? Die KPD protestierte zwar mit Flugblättern aus dem Untergrund "Gegen die Schande der Judenpogrome", doch stand der Kampf gegen die Judenverfolgung und gegen die Massenvernichtung zu keinem Zeitpunkt im Zentrum ihrer Politik. Es gab keine organisierte Aktion zur Rettung von Juden, und nie wurde die Absicht propagiert, geschweige denn der Versuch unternommen, Anschläge auf Deportationseinrichtungen zu verüben. Doch mit der Aussonderung der jüdischen Genossen war die Grundlage für die Entstehung der größten und bekanntesten deutschjüdischen Widerstandsgruppe geschaffen. In der DDR, wo alle ermordeten Juden, also vor allem jene, die gar nichts dafür getan hatten, daß die Nazis etwas gegen sie hatten, zu Antifaschisten umgelogen wurden, was den toten Opfern nichts, der SED aber half, nachträglich dem Antifaschismus eine wirkliche Massenbasis zu verschaffen - in der DDR waren die Mitglieder der Baum-Gruppe erst einmal und hauptsächlich Kommunisten und nur gelegentlich Juden. Nicht zu gelegentlich, weshalb die Parteiführung einen Gedenkstein im Lustgarten errichten ließ und sich damit den Weg zum jüdischen Friedhof in Weißensee ersparen konnte, wo die ermordeten Mitglieder der Baum-Gruppe begraben liegen.

Als der Hitler-Stalin-Pakt zerbricht und die Deportationen einsetzen, fällt in der Gruppe, in der man sich angesichts des herrschenden Wahnsinns mit der Lektüre von marxistischen Klassikern bei Vernunft halten will, der Entschluß zum praktischen Widerstand. Die Baum-Gruppe wendet sich weder an jüdische Institutionen, noch will sie die Deportation zum Thema ihrer illegalen Flugschriften und Aufrufe machen. Ihrer vom KPD-Theoretiker Otto Heller geprägten Grundüberzeugung nach kann nur ein Sieg des Kommunismus den Juden helfen, und zwar durch die Auflösung des Judentums. (Zu den besonders grotesken Fußnoten der Geschichte gehört in diesem Zusammenhang, daß Otto Heller, der Verfasser des vielgelesenen Buches "Der Untergang des Judentums" auf barbarische Weise den Titel seines Werkes erlebte: Er wurde im KZ Mauthausen ermordet). Die Baum-Gruppe richtet ihre Aufrufe an die werktätige Bevölkerung, die sie für den Kampf gegen Hitler gewinnen möchte. Einer der Aufrufe endet mit der Versicherung: "Genossen! Der Sieg ist nicht mehr fern, er wird unser sein!" Wie wenig die jüdischen Kommunisten ihrem eigenen Optimismus glauben, wird indes bald deutlich. Der Brandanschlag, den sie auf eine antisowjetische Propagandaausstellung im Berliner Lustgarten im Frühjahr 1942 unternehmen, ist mehr ein Akt der Verzweiflung als das heroische Unterfangen, zu welchem die DDR-Historiographie den Anschlag stilisierte, der ihr zufolge Ausdruck der Solidarität mit der Sowjetunion gewesen war oder die Bevölkerung hatte mobilisieren sollen. Der Anschlag im Berliner Lustgarten steht vielmehr für den in Deutschland gescheiterten Versuch, die Pariastellung der Juden auch innerhalb des Widerstands zu durchbrechen.

Die Gruppe wird verraten oder tappt der Gestapo in die Falle. Für einige angekokelte Ausstellungsstücke nehmen die Nazis Rache, indem sie 250 Juden sofort erschießen und 250 weitere in ein Lager verschleppen. Die "Reichsvereinigung", die aus Furcht vor Repressalien immer am Legalitätsprinzip zusammen festgehalten hatte, besteht auch während der Deportation auf die Gesetzlichkeit der Handlungen und nimmt Kontakt mit zufällig verschonten Mitgliedern der Baum-Gruppe auf, um sie von weiteren Aktionen abzuhalten, die diese gar nicht mehr in der Lage sind durchzuführen. Die Gruppe ist zerschlagen, die meisten Mitglieder sind in Gestapohaft. Doch gerade angesichts der vollendeten Hoffnungslosigkeit besteht ein Mitglied der Baum-Gruppe darauf, daß Kadavergehorsam gefährlicher sei als offene Rebellion. "Es interessiert uns nicht, was die jüdischen Führer denken", ist seine Antwort an den Emissär der "Reichsvereinigung".

Vor Gericht treten Mitglieder der Baum-Gruppe selbstbewußt als Juden und Kommunisten auf. "Ich bin nicht sonderlich geschult", sagt Lotte Rotholz, "eines aber war mir klar, daß ich als Jüdin nicht zurückstehen kann." Einige Mitglieder der Gruppe werden in Berlin hingerichtet, andere werden, nachdem Juden nicht mehr vor deutschen Gerichten erscheinen dürfen und gleich der SS überlassen werden, nach Auschwitz deportiert und umgebracht. Das Privileg nichtjüdischer Kommunisten, ins Zuchthaus zu kommen, besitzen sie nicht. Gnadengesuche werden abgelehnt. Justizminister Thierack verrät mit seiner Ablehnung gleichzeitig, daß die nazistische Gerechtigkeit eine Schußwaffe ist: "Aufgrund der Vollmacht vom Führer beschließe ich, vom Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen, sondern der Gerechtigkeit freien Lauf zu geben."

V.

In den Untergrund zu gehen, war mit dem Beginn der Deportation der einzige und immer gefährdete Ausweg für jene, die bislang in keinem Kontakt mit oppositionellen Einzelkämpfern oder Gruppen gestanden hatten. Es war eine Entscheidung auch gegen die jüdischen Institutionen, deren Hauptinteresse vorher der Stärkung der sozialen und kulturellen Hilfsprogramme, dem "Aufbau im Untergang", gegolten hatte und die sich nun der "ordnungsgemäßen" Abwicklung der Erfassung und Registrierung widmen mußten. "Als wir den Judenstern abschnitten", berichtete eine Untergetauchte später, "haben wir eine Entscheidung gegen diese einzige Sicherheit getroffen, die uns blieb, die Sicherheit, deportiert zu werden." Nun begann die Suche nach nichtjüdischen Helfern, Quartieren, Papieren, eine Odyssee, die nur drei von zehn Untergetauchten überlebten.

Die einzige jüdische Gruppe, die geschlossen in den Untergrund ging und bis auf wenige Ausnahmen überlebte, war der "Chugchaluzi", eine Jugendgruppe, die sich der zionistischen Bewegung zurechnete und auf eine Zukunft nicht in Deutschland, sondern in Palästina vorbereitete. Daß die Abgetauchten am Leben blieben, verdankten sie wahrscheinlich ebenso ihrer jugendlichen Findigkeit wie der instinktiven Einsicht, daß nichts mehr galt, was vordem gegolten hatte, daß sie durch einen Abgrund von ihrer Umwelt getrennt waren. Sie reagierten als absolut Verlassene, indem sie im Untergrund ihre eigene Welt etablierten und die "Oberwelt" in bloße "Mahlzeitenspender", "Quartierleute" und "Lieferanten" einteilten.

Wie eine vorweggenommene Beschreibung des Endes der DDR liest sich, was Hannah Arendt nach einem Besuch in Deutschland 1950 über die Nischengesellschaft des Dritten Reiches notiert hat: "In den letzten Kriegsjahren gab es eine vage oppositionelle Kameradschaft unter all denen, die aus dem einen oder anderen Grund gegen das Regime waren. Zusammen hofften sie auf den Tag der Niederlage, und da sie - von den wenigen allseits bekannten Ausnahmen abgesehen - nicht wirklich die Absicht hatten, die Herbeiführung dieses Datums zu beschleunigen, konnten sie sich dem Reiz einer mehr oder weniger eingebildeten Rebellion hingeben. Die tatsächliche Gefahr, die schon in dem bloßen Gedanken an Opposition lag, schuf ein Gefühl der Solidarität, das umso tröstlicher war, als es sich nur in solchen nicht greifbaren, emotionalen Gesten, wie einem Blick oder einem Händedruck äußern konnte, in Gesten, die dann eine unverhältnismäßig große Bedeutung erlangten." Dieses Milieu der "vagen oppositionellen Kameradschaft" war in der chaotischen Schlußphase des Krieges gleichzeitig auch der Nährboden für zahlreiche Widerstandsgruppen, die sich überall bildeten und oft mit Leuten bestückt waren, die für ihren Persilschein vorarbeiteten. Eine Ausnahmeerscheinung unter diesen vielen Gruppen stellt die deutschjüdische "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau" dar, die hauptsächlich für den Unterschlupf gefährdeter Personen sorgte und Fluchthilfe organisierte. Kopf der Gruppe war Werner Scharff, der zum zweiten Mal sein Leben im Untergrund aufs Spiel setzte und es, zusammen mit anderen Mitgliedern dieser Gruppe, verlor. Im Juli 1943 war er von einem Gestapobeamten in Begleitung zweier jüdischer Greifer geschnappt und nach Theresienstadt deportiert worden, von wo er wenige Wochen später wieder entfliehen konnte. Im Frühjahr 1944 begann die Gruppe, Flugblätter mit Aufrufen zum passiven Widerstand zu verschicken. Der Verlauf einer dieser Postsendungen gibt Auskunft auf die Frage, was Flugblätter und Aufrufe von Juden bei der deutschen Bevölkerung ausgerichtet hätten: rein gar nichts. Von hundert Exemplaren eines Flugblatts, die die Gruppe an Bewohner eines Miethauskomplexes geschickt hatten, wurden 90 beim Blockwart abgeliefert. Die Deutschen wollten nicht durchlesen, sie wollten durchhalten.

Heute soll der Gedanke daran, daß es unabgegoltene Rechnungen in der Geschichte gibt, nicht aufkommen. Juden gelten als Störenfriede der Erinnerung. Sie stören als Kollektiv das eingeübte Ritual der jährlichen deutschen Versicherung, es habe ein "anderes Deutschland" gegeben, in dem es ohnehin keinen Platz für sie gegeben hätte, und sie stören als Individuen den liebgewordenen Blick auf sie, der sie als passive Schicksalsgemeinschaft, als Objekt eines Verhängnisses wahrnimmt.

Den Text schrieb Eike Geisel für den Ausstellungskatalog "Juden im Widerstand. Drei Gruppen zwischen Überlebenskampf und politischer Aktion. Berlin 1939-1945", Berlin 1993. Er ist wiederabgedruckt in der jetzt von Klaus Bittermann herausgegebenen und mit einem Nachwort versehenen Essay-Sammlung Geisels, "Triumph des guten Willens. Gute Nazis und selbsternannte Opfer. Die Nationalisierung der Erinnerung", Edition Tiamat, Berlin 1998. 1994 erschien von Eike Geisel im selben Verlag "Die Banalität der Guten. Deutsche Seelenwanderungen".